Dirk - Die Buddha Maitreya erscheint
Beginn der 5. Welt
Von Komo Eskapo
Dirk ist eine Trilogie aus drei Romanen:
1. Dirk - Auf der Suche nach Ixtlan
2. Dirk - Die Buddha Maitreya erscheint
3. Dirk - Ionos. Das Ende ist der Anfang
Die Hauptfigur Dirk ist ein Zweifler, ein Suchender, Wanderer zwischen den Welten und stets bemüht, nicht das Gleichgewicht im Balanceakt zwischen Größenwahn und Transzendenz zu verlieren und in finstere Abgründe zu stürzen.
„Ein schwarzer Junge als der kommende Buddha?“ Der 2. Band spielt im Jahr 2065. Die Menschheit hat verstanden, dass sie keinen Gott, einen Buddha oder einen Jesus mehr braucht, sie übernehmen selber die Verantwortung. Auf der Suche nach einem neuen Leben reist Dirk, ein 30-jähriger Programmierer und Buddhist aus Hamburg, nach Afrika. In einem kleinen Küstenort in Ghana baut er ein Kloster auf, in dem sich bald die unterschiedlichsten Schicksale kreuzen. Als die Klosterleitung auf die Idee kommt, den Buddha Maitreya zu suchen, nimmt Dirk telepathisch Kontakt zu einem Hopi-Häuptling in Arizona auf. Denn unter den Hopi wächst ein außergewöhnliches Mädchen heran. Für Dirk beginnt eine abenteuerliche Reise in eine neue Welt.
25 Jahre vorher
Das Flugzeug von Ghana Airways landete pünktlich auf dem Flughafen
von Accra, Ghana. Dirk stand am Transportband, um seine
Koffer in Empfang zu nehmen.
Er war aufgeregt, denn er hatte nach einem halben Jahr in
Deutschland seine Freunde nicht mehr gesehen. Er hatte sie
vorab über seine Ankunft informiert, wusste aber nicht, ob sie
ihn vom Flughafen abholten.
Der Zoll ließ ihn ohne Kontrolle passieren, die automatische
Tür öffnete sich, und auf einmal stand er im Empfangsbereich
und suchte nach bekannten Gesichtern. Er fand auf den
ersten Blick niemanden, traute sich aber nicht, weiter zu
suchen, um sich nicht in den Augen der anderen Wartenden
lächerlich zu machen. Enttäuscht ging er durch die Sperre und
tat so, als sei es das Normalste von der Welt, nicht abgeholt
zu werden.
Er produzierte schnell einen Plan B, damit man ihm die Enttäuschung
nicht anmerkte. Er entfernte sich in Richtung Ausgang
und kam an einem Verkaufsstand für Snacks vorbei, als sie
mit einem Sprung vor ihm standen.
„Da hast du dich aber erschrocken, was?“, sagte Manuel,
lachte Dirk an, begrüßte ihn afrikanisch, nahm ihn in den Arm
und drückte ihn fest an sich.
Kenetty und Judith sahen dem Geschehen belustigt zu. Sie
empfingen Dirk herzlich, Judith nahm ihn ebenfalls in dem Arm,
Kenetty ließ sich nur zu einem Handschlag bewegen.
„Wir haben dich gesehen, wie du nach uns gesucht hast und
wie enttäuscht du warst, als du niemanden gefunden hast, der
auf dich wartet.“
Sollte Dirk darauf antworten? Wollte er sich die Blöße
geben? „Ja, ich hatte überlegt, ob ich mir meine Sonnenbrille
aufsetzen sollte, damit man meine Tränen nicht sieht. Aber ich
habe sie so schnell nicht gefunden.“
Es war früher Nachmittag im November 2030 und vor dem Flughafengebäude
war es heiß, sehr heiß. Dirk war bei Schneetreiben
und Temperaturen um den Gefrierpunkt in Deutschland losgeflogen.
Er hatte in dem halben Jahr alles vorbereitet, damit sie
den Vihara, den er mit Hilfe der Drei gegründet hatte, auf
solide Beine stellen konnten. Er hatte Werbung für sie gemacht
und Interesse bei der Presse und öffentlichen Einrichtungen in
Deutschland geweckt.
Die Vorstellung eines ‚Vihara‘ war Dirk gekommen, als er
vor Langeweile drohte, in einen dunklen Abgrund zu stürzen. Er
saß wie üblich auf der Hebebühne seines LKW, den er vor
geraumer Zeit durch die Wüste erst nach Bukina Faso und dann
nach Ghana gefahren hatte. Er blieb bei der Bezeichnung ‚geraumer
Zeit‘,um nicht unter Handlungsdruck zu geraten, dass er
den LKW immer noch nicht verkauft hatte.
Der Bekannte, mit dem er die Reise begonnen hatte, war in
Bukina Faso ausgestiegen. Er hatte ihm den LKW überlassen mit
der Vereinbarung, ihm die Hälfte von dem Verkaufspreis zu
geben, wenn Dirk nach Deutschland zurückkehrte.
Dirk hatte sich in einem Beach Ressort direkt am Atlantik
ein Häuschen gemietet. Das war so unverschämt günstig, dass er
auf die Nächte in dem fensterlosen Laderaum des Kühl-LKW auf
Klappcouch im Schlafsack gut verzichten konnte, in dem er die
letzten acht Wochen verbracht hatte.
Er fühlte sich gut dabei, morgens nach Belieben aufzustehen
und sich ein Frühstück vom Restaurant bringen zu lassen, zu
dem er sich einen Darjeelingtee kochte. Meistens ging er vorher
im Meer schwimmen, um das Gefühl zu haben, Sport getrieben
zu haben.
Eines Tages standen dann diese zwei Typen im Sand neben dem
LKW, sahen abwechselnd ihn und den LKW an, sagten nichts und
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bewegten sich nicht von der Stelle. Dirk trank seinen Tee
weiter und harrte der Dinge. Im Hintergrund sah er die in der
Nebensaison wenig beschäftigten Küchenfrauen, die auf dem
Tresen der Essenausgabe lehnten, und dem mit Abstand spannendsten
Tagesereignis zuschauten.
Die beiden Typen kamen näher, von denen der eine kurze,
gelbe Hose trug mit einem weiten, unter den Armen tief ausgeschnittenen
T-Shirt. Der andere hatte lange Hosen an mit
einem Paar heruntergekommenen Slippersandalen aus Plastik, der
erste Flipflops, die an der Seite unter dem Fuß hervortraten.
Wenn der mit den Flipflops stand, sah er von der Seite aus
wie ein Pferd, das im Stehen sein Mittagsschlaf hielt, so weit
beugte er das Becken nach hinten, auf dem der Oberkörper zu
ruhen schien. Der andere hatte seinen rechten Arm vor dem
Solarplexus verschränkt, der den linken stützte, der wiederum
mit drei Finger dem Kiefer Halt gab. In dieser Position verharrten
sie und schauten ihm zu.
Dirk wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte.
Er hatte bislang mit den Ghanaern funktionale Gespräche
geführt, die Essen, Benzin an der Tankstelle und Übernachtungen
betrafen. Oberflächlich genoss er die entspannte Atmosphäre,
untergründig aber fragte er sich, wie es weiterging.
Was machte er mit dem LKW? Wo sollte er ihn verkaufen? Wie
lange reichte das Geld? Und überhaupt: Was tat er hier in
Westafrika? Wollte er hier ansässig werden, ein Geschäft
eröffnen oder weiterreisen, wozu er aber nicht wirklich Lust
hatte?
Die beiden Typen verunsicherten ihn, weil sie offensichtlich
etwas von ihm wollten, er aber keine Ahnung hatte, was.
Dabei standen sie immer noch außerhalb Sprechweite, bewegten
sich nicht und sprachen nicht untereinander. Sie machten nicht
den Eindruck, als musste innerhalb der nächsten 5, 10 oder 30
Minuten irgendetwas passieren. Es konnte genauso gut sein,
dass sie sich umdrehten und wieder gingen, ohne nur im
Geringsten enttäuscht zu sein.
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Dirk formulierte Sätze, die als Gesprächsanfang tauchten.
Die beiden Typen bewegten sich und kamen ein Stück näher. Ein
Windstoß fuhr durch die Wedel der Kokospalmen, die wie die
Bänder von Insektenvorhängen klatschten.
Nach einer Weile kam er sich blöd vor, wie er einen Meter
über dem Boden auf der Hebebühne wie auf einem Königsthron
residierte. Er stand auf, wobei der Stein, den er von den Hopi
vor ein paar Jahren geschenkt bekommen hatte2 und den er seit
dem immer bei sich trug, ihn drückte, weil sich die Hosentasche
verdreht hatte.
Er fuhr die Bühne herunter, holte zwei weitere Sitzgelegenheiten
und bat die beiden zu sich auf die Plattform. Sie
nahmen sofort dankend an und setzten sich an das 60-er Jahre
Nierentischchen, das Dirk kurz vor der Abfahrt in Deutschland
erstanden hatte.
Manuel, der mit den gelben Shorts und Kenetty kamen aus
Winneba, waren schon lange mit dem College fertig und fanden
weder Ausbildung noch Job. Sie wohnten bei ihren Familien,
hatten kaum eigenes Geld und liefen im Dorf auf und ab in der
Hoffnung, dass etwas passierte. Als sie anfingen, von dem
Leben in der Kleinstadt Winneba zu erzählen, wurde Dirk klar,
dass die Menschen immer noch da lebten, wo sie das viktorianische
England zurückgelassen hatte, vor 200 Jahren. Ebenso
klang ihr Englisch, das in Fante, ihrer eigenen Sprache, mit
Elementen aller Kolonialherren vermischt war, die das Land
jemals regiert hatten.
Sie kamen am nächsten Tag wieder und an allen darauffolgenden
Tagen. Sie tranken Tee mit ihm, brachten einheimisches
Essen mit und berichteten von den Neuigkeiten aus der Kleinstadt
Winneba. Kenetty übernahm bald die Vermittlung für den
Verkauf des LKW und präsentierte schon einige Tage später
einen Interessenten für die Inneneinrichtung.
2 In Komo Eskapo: „Dirk - Die Suche nach Ixtlan“
Komo Eskapo / DIRK 8
Kojo
Es war ein Sonntagmorgen. Dirk hatte nur flüchtig gefrühstückt,
als sie sich in den LKW setzten und Kenetty ihn zu dem
Nachbardorf dirigierte. Dorf traf die Ansammlung von Hütten
nicht richtig, weil, wie Kenetty sagte, es ein eigenes Volk
war, das eine eigene Sprache hatte und aus einer anderen
Region stammte als die übrigen Bewohner von Winneba. Dirk
hatte sie beobachtet, wenn er am Strand lag oder beim Schwimmen
die Wellen abpasste, um eine Lücke in den Brechern zu
finden, die mit Wucht auf den Sand knallten.
Sie lieferten die Inneneinrichtung des LKW ab, Nierentisch,
3 Stühle, eine Schlafcouch und einen großen Wohnzimmerschrank
aus furnierter Birke mit 2 Glastüren in der Mitte. Dirk konnte
sich das letzte Mal wundern, dass sie trotz aller Schlaglöcher
heil durch die Wüste gekommen waren.
Kojo, der Häuptling in Shorts und kurzärmeligem Hemd aus
Leopardenfell, das hoffentlich nachgemacht war, führte sie
durchs Dorf. Er brachte einen weißen Mann, von dem er Möbel
kaufte, die in seinem Haus, dem einzigen Steinhaus standen und
ihn im Ansehen seines Volkes um einen halben Meter größer
werden ließen.
Das Volk fischte vom Strand mit einem ausgewachsenen
Schleppnetz. Die beiden mutigsten Männer brachten es mit dem
einzigen Ruderboot hinter die Dünung, die sich nur abends
etwas beruhigte.
Am nächsten Tag zog das ganze Volk das Netz an Land mit
zwei Mannschaften an jeder Netzseite, die 50 Meter auseinanderstanden.
Sie wurden begleitet von jeweils zwei Rhythmusgebern.
Diese schlugen in tranceartiger Sicherheit Hohlkörper
aus Holz gegeneinander und produzierten einen Takt, zu dem das
Netz an Land kam, nach dem man aber auch hätte tanzen können,
dachte Dirk.
Er sah zu, wie das Netz sich langsam aus dem schnell tiefer
werdenden Wasser an Land schob. Etwas Blaues in dem Netz
erregte seine Aufmerksamkeit und er schaute um sich, was die
anderen dazu sagten. Aber nichts passierte, die Männer und
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Frauen zogen unbeeindruckt an dem Netz, das weiter aus dem
Wasser kam. Das Blaue nahm Konturen an, doch die Fischer
schienen nur eins im Sinn zu haben, wie viel Fisch war dieses
Mal im Netz.
Dirk sah, wie sich das Blaue wand und drehte, als versuchte
es, sich zu befreien. Es war kein Fisch, denn je weiter das
Netz an Land kam, desto mehr wurde die Beute in die Maschen
des Netzes gequetscht, so auch das Blaue. Dirk war gerade
dabei, das Bild zusammenzusetzen, was er sah, als ein Arm sich
um seine Schultern legte, der von den Ausmaßen her hätte Dirks
Bein sein können. Der Arm drehte ihn herum und zog ihn zurück
ins Dorf mit einem Kenetty, der hinterhertrottete. Dirk spürte
die Wärme, die von dem Häuptling ausging, eine unbändige Energie,
die das Intellektuellen-Leichtgewicht Dirk hätte leicht
in die Bäume werfen können.
Stattdessen war er in seinen Armen mit der Botschaft, dass
er jetzt und für alle Zeiten beschützt war. Dirk schwirrte der
Kopf, der Tage zuvor noch auf seiner Hebebühne gesessen hatte
mit dem Versuch, die schwarze Dunkelheit beiseitezuschieben.
Auf einmal war er in einem fremden Land angekommen, das er nur
von Heinrich Barth3 kannte, der Bilder von den Landschaften
und den Menschen zeichnete, die in Dirks Erdkundebuch gelandet
waren.
Erster Kontakt
Es kamen immer mehr Leute aus dem Dorf, die erst Manuel und
Kenetty mitbrachten und die später alleine erschienen. Am
Anfang war Dirk unsicher, was sie von ihm wollten, und er
dachte daran, sie zu fragen, was sie beschäftigte. Weil es
aber immer mehr wurden, ging er dazu über, ihnen Geschichten
zu erzählen. Dirk hatte in Deutschland neben seinem Studium
Buddhismus studiert und Meditation praktiziert. Abends hatte
3 Heinrich Barth (16.1.1821 - 25.11.1865) war ein deutscher Afrikaforscher,
der neben seinen Notizen Zeichnungen und Skizzen der Menschen und
Landschaften anfertigte, die ihm bemerkenswert erschienen. (zit. nach
Wikipedia 2020)
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er Jatakas4 gelesen, lehrreiche Geschichten aus dem Leben des
Buddha.
Das von ihm angemietete Häuschen hatte einen kleinen Vorgarten,
in dem er sich aus Blättern eine Meditationsmatte
baute, auf das er einen Teppich aus seinem Zimmer und seinen
Schlafsack als Meditationskissen legte. Die Leute saßen im
Schneidersitz, manche im Kniesitz und andere im halben oder
ganzen Lotus im Sand.
Dirk lieh sich aus der Küche eine kleine Salatschüssel, aus
der er einen Gong baute, der das reine Geschichtenerzählen zu
einer Art Zeremonie werden ließ. Die Dorfbewohner schienen
begeistert, wenn auch Dirk nicht vollends verstand, warum.
Einige brachten Blumen oder Stauden mit, die dem Platz eine
festliche Stimmung gaben.
Dirk erzählte bald nicht mehr nur Geschichten, sondern
begann von den Jatakas Verbindungen zur Buddha-Lehre herzustellen.
Im Dorf ließ er sich verschiedene Rezitationstexte
drucken, die er unter den Zuhörern verteilte. Das Singen der
Texte gab der Veranstaltung einen kompakten Rahmen und die
Teilnehmer bemühten sich, die Anfangszeiten einzuhalten.
Manuel und Kenetty berichteten ihm von den Resonanzen in
Winneba und dass sich die Sitzungen schnell in der kleinen
Stadt herumsprachen. Ein Mann sprach Dirk beim Einkaufen auf
dem Markt an und erklärte ihm, dass die Geschichten ihn an
seinen Großvater erinnerten. Der erzählte den Kindern mit
seinen Tiergeschichten von den Göttern, die Menschen einmal
bedrohten, um sie zu warnen, ein andermal gut waren und ihnen
Geschenke machten.
Irgendwann besuchte Dirk der Besitzer des Beach Ressorts
und eröffnete ihm, dass die Saison bald begann und er ihn bat,
die Veranstaltungen an einen andern Ort zu verlegen. Daraufhin
schlug Kenetty vor, in das Kino umzuziehen, das zur Zeit leer
stand und für einen geringen Betrag zu mieten war. Sie bauten
den Raum um, belegten den Boden mit Bastmatten, ließen sich
aus Holz eine Buddhastatue schnitzen und errichteten am Kopf-
4 Jatakas sind lehrreiche, teilweise erzählerisch gelungene Geschichten
aus dem Leben des Buddha.
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ende einen Altar, den die Teilnehmer mit frischen Blumen
bestückten.
Eines Abends hörte Dirk über das Internet einen Vortrag
eines Mönchs, dessen Seminare er in Deutschland besucht hatte.
Er sprach von dem Sangha, der Mönchsgemeinde, die sich in
Indien zur Regenzeit in einem Vihara einfindet, um gemeinsam
die Zeit zu verbringen, in der sie nicht umherwanderten. Da
wurde Dirk klar, dass das Kino zu einer Art Vihara geworden
war, auch wenn es keine Ordinierten gab, die darin wohnten.
Und wie es aussah, war er, Dirk der Leiter. Hatte er die Aufgabe
bekommen, in Schwarzafrika der Gründer eines Meditationszentrums
zu sein? Wollte er das?
Am nächsten Morgen kippte die anfängliche Euphorie und er
sah sich vor dem Altar mit der Buddhastatue sitzen. Er schaute
in 100 Augenpaare erwartungsvoll bräsiger Schafe, die mit aufgestellten
Ohren auf das Kommando des Schäfers warteten. Mit
nach unten gesenkten Augen vollführte er in Gedanken wegwerfende
Handbewegungen, die die andächtig Dreinschauenden aus
dem Raum scheuchten und sie zurück in ihre Hütten schickte.
Sein Kopf kippte nach hinten und wurde die blanke Abscheu für
die spießigen Kleingeister, die ihn, den großen Guru unterwürfig
ansahen.
Sein Kopf war leer, ihm fielen weder Jatakas ein, hilfreiche
Lehrreden, noch aufbauende Worte, die er an die Zuhörer
richten konnte. Er ließ sie meditieren, auf den Atem achten,
stand auf und verließ den Raum. Er ging zu Manuel, sagte ihm,
worum es sich handelte, bat ihn, die Versammlung aufzulösen,
und verzog sich in sein Zimmer. Er versuchte, zur Ruhe zu
kommen, und verfiel dabei in einen Traum, aus dem er schweißgebadet
aufwachte. Was maßte er sich an, Menschen in spiritueller
Lebensführung anzuleiten, wenn er noch nicht mal
wusste, wer das war, der da vorne neben der Buddhastatue saß.
Durfte er denen, die ihre Hoffnung in ihn setzten, seine
Idealwelt vorsetzen, die er sich theoretisch auserkoren hatte?
Er hatte den Praxisbeweis nicht erbracht, dass er das lebte,
was er ihnen vorstellte.
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Manuel erkannte sofort, worum es ging. Er brachte die Veranstaltung
zu Ende, die Teilnehmer bemerkten den Wechsel,
maßen ihm aber keine Bedeutung bei.
„Ich musste im College einmal ein Referat halten“, sagte er
und Dirk spürte Augen auf sich gerichtet, die ihn warm werden
ließen, im Bauch, genau da, wo nicht der Kopf ist. „Ich war
schlecht vorbereitet, weil die mobile Disko im Dorf war und
wir lange getanzt haben. Einem Mädchen in der Klasse wurde
schlecht und wir brachten sie auf der Bahre in die Krankenstation.
Auf dem Weg dahin zog sie das Manuskript für ihren Vortrag
aus ihrer Bluse und gab es mir. Ich habe es vorgetragen
und eine gute Note dafür bekommen.
Nachmittags bei einem Kaffee habe ich ihr das Papier
zurückgegeben. Sie hat es eingesteckt und sich über mich
lustig gemacht. Ich weiß nicht, ob du das Gefühl kennst, wenn
dir jemand ein Boot schenkt, mit dem du auf die andere Seite
paddelst und dir dann zuwinkt, dass du das Gefühl hast, auf
der anderen Seite zu sein. Das ist ein tolles Gefühl!“
Manuel ließ Dirk allein. Am nächsten Morgen verließ er ausgeruht
sein Zimmer, frühstückte mit gutem Appetit und wusste,
dass er eine Entscheidung getroffen hatte. Dieser Vihara war
ihm vor die Füße gefallen, sagte er sich und damit zu seiner
Aufgabe geworden. Also war er der Leiter. Über alles andere
konnte er sich später Gedanken machen.
Wie war es mit dem Vihara in der Zeit weitergegangen, in der
er weg war? Dirk hatte die Leitung vor einem halben Jahr in
die Hände der drei abgegeben, um nach Deutschland zu fliegen.
Kenetty hatte ihm beim Verkauf des LKW geholfen und Dirk
hatte ihn dabei schätzen gelernt. Der Vihara war immer größer
geworden und die Aufgaben vielfältiger und arbeitsintensiver.
Dirk war froh, dass Kenetty sich der Finanzen annahm. Wobei
der Begriff Finanzen nicht den Bereich abdeckte, den er
bestellte. Er war in den Augen von Dirk ein besonderer Mensch
mit Eigenschaften, die für den Betrieb eines so empfindsamen
Unternehmens wie eines Vihara entscheidend waren.
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Kenetty stand nie im Vordergrund. Wenn andere sich auf die
Bühne drängten, schob er einen Stuhl für den Protagonisten
heran, damit der sich setzen konnte. Dabei war Kenetty nicht
der Typ Diener, der Anweisungen und Befehle ausführte, sondern
er hatte den Stuhl schon in der Hand, wenn der Protagonist
erst daran dachte, sich setzen zu wollen.
Manuel kam wie Kenetty aus Winneba. Beide waren gute
Freunde und Dirk hatte, bevor er nach Deutschland fuhr, eine
Zeit lang in dessen Haus gewohnt. Manuel war vollkommen anders
gestrickt.
Wenn er durch die Kleinstadt Winneba zog, kam er aus dem
Grüßen nicht mehr heraus. Er brauchte für die kurze Strecke
auf der Hauptstraße, der Comercial Street eine Stunde, weil er
mit jedem Zweiten, dem er begegnete, redete. Waren es Frauen,
die ihm entgegenkamen, besonders die um Mitte 20 wie er und
dann auch noch hübsch, lief er zu Höchstform auf.
Als Dirk ihn einmal auf einem Spaziergang durch das Dorf
begleitete, stellte Manuel ihm seine Frauen vor. Er teilte
ihnen eine Rangordnung von der ersten bis zur vierten zu, die
er nicht vor den Frauen verheimlichte. Die Frauen lachten, sie
lachten ihn aus und fühlten sich gleichzeitig von ihm
geschmeichelt.
Im Vihara war Manuel die typische Zweitbesetzung. Er konnte
für jeden einspringen. Manuel war zwar nicht verlässlich,
dafür konnte er hervorragend improvisieren. Er hatte von
Meditation, insbesondere geleiteter Meditation keine Ahnung.
Musste er aber eine Sitzung leiten, weil sonst keiner zur Verfügung
stand, war er einmalig. Er hatte sich viele Meditationen
angesehen und wusste ungefähr, worum es ging.
War er der Leiter, wurde nicht nur meditiert, sondern er
zeigte, insbesondere den Frauen, wie sie die beste Meditationshaltung
einnahmen. Die Frauen nahmen die Korrekturen
gerne an und hatten bei den Meditationen, wie soll man sagen,
ein freudiges Lächeln auf den Lippen.
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Judith war eine sogenannte ‚Zurückgekehrte5‘. Sie war in
Jamaika geboren und hatte in England einen ghanaischen Arzt
geheiratet, mit dem sie zwei Kinder großzog.
Judith hatte sich nach den ersten Meditationen, als sie
noch am Strand stattfanden, mit einer unvorstellbaren Energie
in Meditationstechnik und buddhistische Lehre eingearbeitet,
wie Dirk es nie zuvor bei einem Menschen erlebt hatte. Er verstand
nicht, was sie ritt, sie lief wie eine Verdurstete
hinter Lehrreden und Meditationstechniken her.
Von einem Tag auf den anderen engagierte sie ein Kindermädchen,
vernachlässigte den Haushalt, recherchierte Material im
Internet, schrieb lange Kommentare in Blogs, und wenn Dirk sie
traf, hatte sie jedes Mal 100 Fragen, die er beantworten
sollte.
Schon bald ließ er sie die ersten Meditationen übernehmen.
Er besorgte ihr Lesestoff, soweit das in Ghana möglich war,
den sie nicht nur verschlang und zu verstehen schien, sondern
nach Dirks Einschätzung zu einem eigenen Bild von Befreiung
führte.
Judith sprach die Schwarzafrikaner da an, wo sie bereit
waren, mit der ihnen fremden Spiritualität des Buddha mitzugehen.
Dirk war eher der Intellektuelle und kam sich manchmal vor
wie ein weißer Priester, der die Schwarzen mit erhobenem
Zeigefinger vor den Verlockungen des Lebens schützen musste.
Judith holte die Einheimischen bei ihren Alltagssorgen ab und
zeigte ihnen eine Welt, die ihnen die Augen öffnete.
Vor dem Flughafengebäude bestiegen sie das autonome Taxi, das
ohne Fahrer auskam und ein Nischendasein in Ghana fristete.
Die Ghanaer waren der festen Überzeugung, dass sie in dem
undurchschaubaren Verkehr der Hauptstadt Accra besser manövrierten
als jeder Roboter und sich über die Selbstfahrenden
lustig machten.
5 Die Westafrikaner nennen die ehemaligen Sklaven der Westindischen
Inseln ‚Zurückgekehrte‘, weil sie in ihre Heimatländer zurückkommen.
Komo Eskapo / DIRK 15
Judith gab das Fahrziel in den Bordcomputer ein und nach
kurzer Zeit bewegte sich das Auto in Richtung Innenstadt. Der
Batterieantrieb summte leise, nur wenn er an den Kreuzungen
beschleunigte, zog ein Pfeifen durch den Fahrgastraum. Die
ghanaischen Programmierer hatten den Computer so eingestellt,
dass der Motor an der Ampel seine ganze Beschleunigungsleistung
zeigte und die müden Dieseltaxis mit den stolzen Fahrern
abhängte.
Am westlichen Busbahnhof von Accra stiegen sie um in den
‚Magic Bus‘, wie die Ghanaer den Expressbus nannten, der auf
einer eigenen Spur entlang der Küste fuhr. Er verband die
Häfen und die Industriezentren. Dirk war ein bisschen stolz,
dass die Wasserstofftechnik zum Betrieb des Busses aus
Deutschland stammte.
Das alte Kino von Winneba, das Dirk erst gemietet und dann auf
Anraten von Kenetty gekauft hatte, stand noch. Judith hatte
das Tickethäuschen und das Büro inzwischen aufstocken lassen,
sodass oben ein geräumiges Zimmer entstand, in dem man sich
entspannt mit 20 Leuten treffen konnte. Dem angegliedert war
eine kleine Küche, in der die Küchenhilfe Kaffee und einen
Imbiss vorbereitet hatte.
Der Sponsor des Vihara, ein ghanaisches Unternehmen, das
Joghurt und Käse herstellte, bezahlte neben der Miete des
Kinos – es hieß immer noch so – vier Angestellte. Dazu gehörte
die Haushaltshilfe, die für die Grundversorgung und die
Sauberkeit der Räume verantwortlich war.
„Schön“, sagte Dirk, als er die neuen Räume sah und sich
auf einen der bequemen Stühle setzte, die um einen ovalen
Tisch herum angeordnet waren. „Wir müssen nicht mehr auf
Meditationsmatten sitzen, sondern können uns wie zivilisierte
Menschen an einen Tisch setzen und über unsere Themen reden.
Das nenne ich Fortschritt!“
Judith sagte nichts, war aber sichtlich stolz, dass Dirk
ihren Bau gut fand. Manuel, der den Entwurf hatte anfertigen
lassen, wollte etwas sagen, als Judith ihm mit dem Ellenbogen
Komo Eskapo / DIRK 16
in die Seite stupste. „Das kann warten“, raunte sie ihm zu,
als Dirk sich bückte und Gepäck aus seinem Koffer holte.
Manuel wollte von der zweiten Etage über dem alten Kinosaal
berichten, die er mit Judith entworfen hatte. Der Plan war,
eine Bibliothek, ein Leseraum, ein größeres Büro und ein Ruheraum
mit Übernachtungsmöglichkeit zu bauen.
Dirk holte drei Geschenke aus seinem Koffer, die er den
dreien übergab. Jedes trug einen kleinen Anhänger, auf dem der
Name des Beschenkten stand.
„In China“, sagte Dirk, als er die Mitbringsel überreichte,
„packen die Empfänger die Geschenke nie aus, wenn der Übergeber
dabei ist. Wisst ihr warum?“
Alle drei sahen Dirk verständnislos an. Sie fragten sich,
was er von ihnen wollte und ob er nichts Besseres zu tun
hatte, als ihnen komische Fragen zu stellen.
„Sie verlieren ihr Gesicht, wenn sie enttäuscht sind, weil
ihnen das Geschenk nicht gefällt und der Schenkende dabei
ist“, sagte Kenetty nach einer Weile.
„Sind wir hier in China?“, fragte Judith, der die Fragerei
lästig wurde. Sie wollte über andere Dinge reden.
„Wie war es denn in Deutschland?“, fragte sie. „Hast du
etwas erreicht?“
Dirk betrachtete düpiert von Judiths Frotzelei einen neutralen
Ort im Raum. Er hatte vergessen, dass Judith kein Blatt
vor den Mund nahm, wenn ihr etwas zu bunt wurde.
Afrikanische Meditation
Der neue Vihara im Kino und die geleiteten Meditationen sprachen
sich schnell herum und Dirk konnte sich bald vor
Anfragen, Gesprächen und Meditationen kaum retten. Kenetty in
seiner unaufdringlichen Art war immer dabei und beriet Dirk,
wie er mit den Schwarzen umgehen sollte, die komplett anders
tickten, als Europäer.
Judith brauchte keine Beratung, die sich im Vihara der
Frauen annahm, die gegenüber den Männern in der Mehrzahl
waren. Äußerlich unterschied sie sich nicht von den anderen
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Frauen, mit dem Unterschied, dass Sie sich nicht die Butter
vom Brot nehmen ließ. Sie sagte ihre Meinung, wann immer sie
das Gefühl hatte, das sie gesagt werden musste. Für Dirk war
diese Haltung normal, er kannte Positionsbeziehen aus Deutschland
nicht anders. Für die Schwarzen, insbesondere die Frauen
jedoch war das ungewöhnlich und stieß zuerst auf Ablehnung.
Judith schien die Vorbehalte zu kennen und nutzte sie, um
an die Menschen heranzukommen, sie redete mit ihnen genau über
deren Vorbehalte. Judith sagte den Frauen ins Gesicht, dass
sie auf dem wichtigsten Familienfest, den Beerdigungen, einfach
mal eine Jeans anziehen sollten und nicht den Kente in
gedeckten Farben, wenn sie dazu keine Lust hatten. Die Frauen
waren zuerst bestürzt, dann sah man einige, die zaghaft die
Kleidung trugen, die ihnen gefiel. Sie berichteten Judith
sogar, dass sie ihre Männer aufgefordert hatten, zu kochen
oder einkaufen zu gehen. Die Männer lehnten die Änderungen
zuerst brüsk ab, später, schilderten die Frauen, machten sie
es sogar gerne. Judith hatte das Selbstbewusstsein, das die
anderen Schwarzen nicht hatten und die ghanaischen Frauen
sprangen darauf an.
Damit besaßen Dirk und Judith ein Ziel für die Arbeit:
Selbstwert, der später zu der bewussten Entscheidung für einen
spirituellen Weg führen sollte. Sie wollten erreichen, dass
die Menschen ihre persönliche Meinung formulierten und sie
gegenüber anderen vertraten. Sie kamen zu sich, ihren eigenen
Gefühlen und Lebensplanungen und kehrten nicht alle Begebenheiten
unter einen schicksalhaften Teppich, auf den sie keinen
Einfluss hatten.
Judith übernahm in der Folge die Meditationen, wenn Dirk
verhindert war. Sie verfeinerte ihre Meditationspraxis mit
Anleitungen aus dem Internet und besorgte sich die Lehrreden
des Buddhas, wenn sie Meditationen zu einem ausgewählten Thema
leitete.
Judith war Mutter von zwei Kindern, den Haushalt übernahm
zwar die Haushälterin, aber Dirk bewunderte sie. Judith kam zu
den gemeinsamen Besprechungen und stellte Fragen zu Buddhas
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Lehre, die Dirk selber nicht beantworten konnte. Sie war so
tief in die Materie eingestiegen, dass Dirk das eine um das
andere Mal seinen Mönch in Deutschland anrief, um ihn um Rat
zu fragen. Dirk lernte dazu, hatte eine Partnerin an seiner
Seite und einen Vihara, der einen zunehmend zufriedenen Eindruck
machte.
Als Dirk plante, nach Deutschland zu fahren, um Unterstützung
für das Projekt zu beschaffen, hatten sie zu viert besprochen,
was der Vihara am dringendsten benötigte. Neben Geld sahen sie
Aufmerksamkeit als das wichtigste an, Fürsprecher, die der
Bewegung eine Öffentlichkeit verschafften. Sie wollten gesehen
werden, sie brauchten den Dialog mit anderen Zentren und Klöstern.
Bei der Deutsch Afrikanischen Gesellschaft weckte Dirk
Interesse für die Unternehmung. Die Gesellschaft war eine
Stiftung, die sich für den Aufbau eines Bildungsbürgertums in
Ghana einsetzte. Dirk sah die ökonomischen Interessen im
Hintergrund, die Menschen zu staatstragenden Konsumenten
erziehen wollte. Das, sagte er sich, war der Begleiteffekt,
den er nicht vermeiden konnte.
Als er die Gesellschaft auf seine Seite geholt hatte,
wurden Politiker und NGOs (Non Gouvernement Organisations) auf
die Bewegung aufmerksam. Sie fanden den Ansatz des Vihara
förderungswürdig und bekundeten, ihn in Zukunft zu unterstützen.
Das waren bislang Absichtserklärungen, die in Ghana ratifiziert
werden sollten.
Das größte Pfund nach Dirks Einschätzung aber war Tim
Schwager, den das Projekt begeisterte und der einen Film über
den Vihara drehen wollte. Dirk hatte eine Nacht mit ihm
zusammengesessen und sie hatten einen Entwurf für eine Handlung
geschrieben, die die Idee des Vihara aufgriff und daraus
einen Spielfilm machte.
„Wir müssen sehen, was daraus wird. Auf alle Fälle ist es
gut, dass wir jetzt ein richtiges Büro haben, in dem wir die
Leute empfangen können.“
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„Denk dran“, sagte Kenetty, „den Sponsor auf dem Laufenden
zu halten, falls die neuen Aktivitäten in seinen Zuständigkeitsbereich
fallen.“
„Wie geht’s mit den Meditationen und mit den Leuten voran?
Wie ist der Stand, wie hat sich der Vihara weiterentwickelt?“,
fragte Dirk.
„Um es kurz zu sagen, brauchen wir eigentlich einen weiteren
Meditationsraum. Es kommen inzwischen so viele Menschen,
dass es im großen Kinosaal droht, eng zu werden“, sagte
Judith. „Es ist gut, dass du wieder da bist. Ich konnte es
allein fast nicht mehr bewältigen.“
„Das hat der Sponsor auch mitbekommen“, sagte Kenetty, „und
möchte seine Vertragslaufzeit verlängern.“
„Hat er schriftlich oder mündlich angefragt?“, wollte Dirk
wissen.
„Einer von der Geschäftsführung war hier und hat an einer
Meditation teilgenommen. Danach kam er zu mir und wir haben
darüber gesprochen.“
„Wir warten erstmal ab, was aus den Kontakten in Deutschland
wird. Könnte sein, dass die Deutsch Afrikanische Gesellschaft
nicht so erpicht darauf ist, wenn es noch weitere Geldgeber
gibt.“
Dirk konnte bei Manuel schlafen, der zwei Etagen eines Hauses
bewohnte, das seinem Vater gehörte. Er schlief sofort ein, der
Tag war anstrengend gewesen. Er träumte von einer großen,
goldenen Buddhastatue, die im Traum lebendig wurde und ihn
durchdringend ansah. Sie sprach ihn an, aber Dirk konnte sich
morgens nicht mehr an die Worte erinnern.
Woran er sich erinnerte, war die Stimme und die Sprache, in
der die Statue zu ihm gesprochen hatte. Die Sprache kam ihm
bekannt vor und die Stimme war leise und weich gewesen. Das
hatte ihn irritiert, weil er immer dachte, dass der Buddha
eine sonore Stimme besaß, die hunderte von Zuhörern erreichte.
Am nächsten Tag nahm Dirk an einer Meditation teil, die
Judith leitete. Der große Kinosaal war bis auf das letzte
Kissen gefüllt. Einige hatten eigene Sitzkissen mitgebracht,
Komo Eskapo / DIRK 20
die sie an den Seiten ablegten, wo der Fluchtweg und der
Zugang für die Besucher war.
Judith leitete die Meditation mit einem Chanting ein. Sie
ließ die Huldigung der Drei Juwelen aber nicht in Pali, der
Sprache, die der Buddha gesprochen hatte, rezitieren, sondern
auf Englisch, der offiziellen Landessprache von Ghana.
Sie leitete die Meditation mit Ausschnitten aus dem Anapanasati6
Sutta, der Lehrrede des achtsamen Atems. Nach der
Konzentration auf den Atemkörper unterbrach sie die Leitung
und überließ die Meditierenden sich selber. Judith hatte ein
gutes Gespür dafür, wie es den Leuten ging, und ermunterte
sie, eine aufrechte Haltung einzunehmen und nicht ihren
Gedanken nachzuhängen.
Nach einer Stunde Meditation stimmte sie erneut ein Chanting
an, das Dirk nicht kannte, den Teilnehmern aber geläufig
zu sein schien. Eine Trommlerin ging nach vorne, die Judith
rhythmisch beim Singen unterstützte. Die Meditierenden erhoben
sich von ihren Kissen, sangen laut im Stehen und klatschten
dazu in die Hände. Es entwickelte sich ein Zwiegesang, Judith
gab den Gesangstext vor und die Teilnehmer wiederholten ihn.
Es kam Stimmung auf, und die Leute tanzten um ihre Meditationskissen,
die einige zusammengerollt hatten.
Dann setzte Judith sich wieder auf ihren Platz und die
Anderen taten es ihr gleich. Sie schlug den Gong, und in kürzester
Zeit herrschte absolute Stille. Nach 10 Minuten eröffnete
sie mit einem weiteren Gongschlag die Nachbereitung und
antwortete auf Fragen, die sich auf das Sutta bezogen. Wurden
die Sachverhalte persönlich, verwies sie auf die Sprechstunde
nach der Meditation.
Es entwickelte sich eine rege Diskussion über die Praxis
der Meditation im Vihara und bei den Teilnehmern zu Hause.
Eine Teilnehmerin beschrieb, wie respektlos sie in ihrem
beengten Zuhause von den anderen Familienmitgliedern behandelt
wurde.
6 Sutta oder Lehrrede 118 des Majjhima-Nikaya (Mittlere Sammlung), kurz
mit M oder MN bezeichnet. Systematisierung der Lehrreden siehe
http://www.palikanon.com/
Komo Eskapo / DIRK 21
„Sie kommen einfach, ohne anzuklopfen, herein und sprechen
mich an, obwohl sie sehen, dass ich meditiere. Insbesondere
meinen Brüdern scheint es Spaß zu machen, mich zu ärgern.“
Auf einmal redeten alle durcheinander und Judith schaute
zuerst hilflos in die Runde; dann ließ sie sie reden, damit
sie sich untereinander austauschten.
Judith spürte Dirk, der sich in die letzte Reihe gesetzt
hatte, um unbeobachtet dem Treiben zuzuschauen, sie suchte
jedoch nicht seinen Blickkontakt. Sie wollte nicht von ihm
gestört werden, der sicher einiges an dem Ablauf zu kritisieren
hatte, weil er es anders machte. Sie hatte sich ihren
Stil in kleinen Schritten erarbeitet und darauf geachtet, wie
diese bei den Teilnehmern ankamen. Es war ihr wichtig, dass
die Meditierenden sich wohl fühlten. Sie wollte keine Theorie
und Praxis verkaufen, die die Anwesenden nicht verstanden. Es
war ihr egal, ob sie damit von dem traditionellen Weg abwich,
den Dirk vertrat.
Dirk hatte seine Ideen aus Europa mitgebracht. Aber das
hier war nicht Europa mit seinen Intellektuellen, die meinten,
wenn sie strikt den Vorgaben des Buddhas folgten, erreichten
sie automatisch die Erleuchtung. Hier war Afrika und die Afrikaner
waren nun mal anders als Europäer. Hier, hatte Judith in
dem halben Jahr die Erfahrung gemacht, kam die Erlösung, das
Durchdringen des eigenen Lebens vom Herzen und nicht vom Kopf.
Die Afrikaner lebten von der Freude, nur die animierte sie
eine Aufgabe anzunehmen, die nicht mit Essen, Trinken oder
Schlafen zu tun hatte.
Dirk sah einige Teilnehmer, die er aus der Anfangszeit des
Vihara kannte, doch die meisten waren ihm unbekannt. An den
Stammesmerkmalen in den Gesichtern erkannte er Weitgereiste
aus der zentralen und nördlichen Region Ghanas, die traditionell
dem islamischen Glauben folgten.
Dirk verfolgte die Meditation mit gemischten Gefühlen. Er
freute sich, dass die Meditierenden sich zu Hause fühlten und
sich gegenseitig unterstützten, er sah die leuchtenden Augen.
Komo Eskapo / DIRK 22
Der Ablauf der Meditation und die darauffolgenden Gespräche
entsprachen nicht seiner Vorstellung, wie die Lehre Buddhas
vermittelt werden sollte. Dirk war kein Traditionalist, aber
er hatte New Age Bewegungen mitbekommen, die sich Teile aus
der Lehre nahmen, die in ihre Ideologie passten. Die Scientology
Kirche war nur eine von ihnen. Das wollte er auf alle
Fälle verhindern, dazu war die Lehre zu kostbar. Der Frieden,
den er gedachte mit seiner Arbeit zu schaffen, sollte nicht in
weiten Gewändern mit Turbanen und Mantren enden, die Menschen
vor sich hinsummten. Das verstand er nicht unter Befreiung.
Der herkömmliche Mensch hatte eine einseitige Ansicht vom
Leben, die nicht allein vom Mantrensingen verschwand.
Dirk merkte, wie Widerwillen in ihm aufstieg. Es gefiel ihm
nicht, dass Judith eigenmächtig einen Weg einschlug, ohne sich
mit ihm abzusprechen. Er hatte diesen Vihara auf den Weg
gebracht, da sah er es als folgerichtig an, in Fragen wie dem
Ablauf der Meditationen mit eingebunden zu werden.
Dirk fühlte sich müde, wie er sich immer müde fühlte, wenn
ein Problem auftauchte, das im Weg stand. Probleme waren für
ihn Steine, die man wie einen Fußball mit Schwung aus dem Weg
schoss. Leider hatte er sich bei dem einen oder anderen schwer
den großen Zeh verletzt. Am schlimmsten waren die, von denen
man wie bei Eisbergen nur die obere Spitze sah. Der Rest
steckte in der Erde und wurde von ihr festgehalten. Er spürte,
dass Judith zu der letzten Kategorie gehörte.
Vor einem halben Jahr hatten ihn Kenetty und Manuel den
Guru genannt, auch wenn sie nicht wussten, was das bedeutete.
Sie hatten das gemacht, was Dirk vorgegeben hatte. Und jetzt?
Mit Judith war eine Person ins Haus gekommen, die Dirk
faszinierte, weil sie provokant, intelligent und nah an den
Menschen war. Sie wohnte schon lange in Ghana und hatte einen
distanzierten Blick auf ihre Umgebung, sie kannte sich aus.
Das machte sie wertvoll für den Vihara und Dirk wollte sie
nicht verlieren.
Trotzdem sollte sie ihm nicht auf der Nase herumtanzen und
Mediation zu ihr eigenen Sache machen. Die Lehre und die
Komo Eskapo / DIRK 23
Meditationstechniken waren fundamental und mussten mit Allen
besprochen werden. Das war demokratisch, aber wussten Judith,
Kenetty und Manuel, was Demokratie bedeutete? Kannten sie den
Prozess, eine Meinung zu formulieren, einer anderen zuzuhören,
sie abzuwägen und die bessere zu übernehmen? Am Ende musste
man sich der Mehrheit beugen. Noch besser, alle waren überzeugt
und man entschied nicht nach Mehrheiten. Dazu brauchte
man Zeit und gute Argumente.
Dirk musste eine Entscheidung fällen, denn nach der Meditation
trafen sie sich im Büro und Judith würde ihn nach seinem
Eindruck fragen. Dirk spürte die Unruhe, die im Magen auf ihn
wartete. Am liebsten wäre er spazieren gegangen, im Meer
geschwommen, oder hätte Manuel und Kenetty die Lösung der Aufgabe
übergeben. War er nach Ghana gekommen, um Kompromisse zu
finden? Nein! Er war offensichtlich aufgerufen, einen Vihara
aufzubauen. Das sollte reichen. Er war Visionär und Mystiker
und kein Politiker.
‚Ich werde mich mit einer Einschätzung zurückhalten‘, sagte
er sich ‚und im Vorfeld sondieren, wo Manuel und Kenetty
stehen, damit ich mit einer Beurteilung nicht gegen die Wand
fahre.‘ Der bessere Weg, redete er sich ein, so war er auf der
sicheren Seite. Dann konnte er Judith überzeugen, von ihrem
Hare-Krishna-Weg abzukommen. Dirk merkte, wie das Problem
langsam in der Ferne verschwand und sich sein Magen entspannte.
Die Diskussion flachte ab. Die Fragen aus dem Publikum
wurden immer persönlicher und hatten keinen Wert mehr für die
Allgemeinheit. Judith merkte das und er sah, wie sie sich auf
das Schlusswort vorbereitete. Dirk war gespannt, was sie dazu
plante.
Sie schlug den Gong, ließ sich den Ton im Raum verhallen,
bis er vergangen war, drehte sich zu der Buddhastatue um, die
neben ihr ihren Platz hatte und verbeugte sich dreimal. Die
Teilnehmer taten es ihr gleich. Danach standen alle auf,
sangen eine Lobeshymne auf die drei Juwelen in, Dirk traute
seinen Ohren nicht, Pali. Jede Zeile übersetzte sie ins EngKomo
Eskapo / DIRK 24
lisch, damit jeder verstand, was gemeint war. Dirk spürte die
Atmosphäre im Raum, ein kalter Schauer der Freude lief ihm
über den Rücken. War Buddhas Botschaft bei diesen Menschen
schon angekommen?
„Sehr gut! Du hast einen interessanten Weg gefunden, um
die Menschen anzusprechen“, antwortete Dirk auf Judiths Frage,
wie ihm der Verlauf gefallen hatte. „Auch das Abschluss-Chanting
auf Pali fand ich gut.“
„Das dachte ich mir, dass dir das Chanting gefällt. Wir
haben extra jede Zeile übersetzt, damit die Teilnehmer wissen,
was sie singen. Ich habe die Lieder ausdrucken und laminieren
lassen. Sie nehmen sie vor der Meditation mit, legen sie unter
ihr Sitzkissen und holen sie zum Singen hervor. So werden sie
in der Meditation nicht abgelenkt.
Einige haben gefragt, ob sie die Liedtexte mit nach Hause
nehmen dürfen. Für die habe ich die Texte unlaminiert drucken
lassen. Es kam schon vor, dass kleine Kinder die Lieder auf
der Straße singen. Also chanten einige die Lieder zu Hause, wo
die Kinder sie aufschnappen.“
„Wird in ganz Ghana Englisch gesprochen?“, fragte Dirk.
„Ich meine, können es alle Ghanaer verstehen?“
„Eigentlich schon“, sagte Manuel. „Wobei Leute aus der
Upper Region selten hierher kommen. Die Anreise ist ihnen zu
weit.“
„Wir sollten ein Hotel oder ein Haus bauen, in dem Teilnehmer
übernachten können“, sagte Judith. „Dann könnten sie
total abschalten und kämen zu den Meditationen ins Kino.“
„Du meinst ein richtiges Retreat-Haus, in dem sie verpflegt
werden und einen Garten haben, in dem sie umhergehen können?“
„Genau.“
„Mein Vater hat ein Grundstück, das an das Muni-Pomadze7
grenzt. Das wäre gut geeignet, um einen Rückzugsort für
Meditierende zu schaffen“, sagte Manuel.
‚Da gehen aber die Türen auf‘, dachte Dirk, der sich bislang
keine Gedanken über die Weiterentwicklung des Vihara
7 Das Muni-Pomadze ist ein Naturschutzgebiet, das westlich an Winneba
grenzt.
Komo Eskapo / DIRK 25
gemacht hatte. Die Idee für einen Rückzugsort war verlockend.
Dann brauchte man die Meditationen nicht mehr in dem Kino
mitten in der Stadt abzuhalten, in dem es immer Lärm gab. Aber
ein Retreat-Zentrum in Westafrika? War das realistisch? Würden
die Menschen eine Woche in ein Haus kommen, um zu schweigen
und sich zurückzuziehen? Und gaben sie dafür Geld aus?
Zur Abendmeditation, die bei Sonnenuntergang begann, kamen
ebenso viel Leute wie mittags. Judith fragte Dirk, ob er die
Leitung übernahm. Er lehnte ab, weil er nach der langen
Abwesenheit noch nicht in Winneba angekommen war, er brauchte
Zeit.
Dirk war nicht nur nicht angekommen, sondern er war sich
nach dem Verlauf von Judiths Sitzung nicht im Klaren darüber,
wie er Meditationen in Zukunft gestalten wollte. Als er in
Judiths Meditation saß, merkte er, dass er nur seinem Herzen
folgen konnte, wie er es früher schon getan hatte. Dirk konnte
den Ablauf nicht vorplanen, das war nicht sein Stil. Er hatte
sich ein Thema genommen und war damit vor die Teilnehmer
getreten. Nur so war er offen für die Nöte und Stimmungen, die
die Zuhörer mitbrachten. Sie waren es, die nach einem Ausweg
suchten.
Am nächsten Tag zog Dirk sich in sein Zimmer zurück, richtete
es ein, meditierte und joggte zwischendurch zum Strand, sich
erfrischen. Gegen Mittag kam Kenetty und sie gingen gemeinsam
essen. Er berichtete ihm über die Zeit, als Dirk in Deutschland
war. ‚Berichten‘ war nicht das richtige Wort, denn
Kenetty schilderte nicht chronologisch von Anfang bis Ende.
Dirk musste ihm Stichworte geben, damit er überhaupt anfing,
zu erzählen.
„Was habt ihr denn gemacht, als ich abgereist bin?“, fragte
er ihn.
Kenetty antwortete nicht sofort und Dirk befürchtete, dass
überhaupt nichts kam.
„Wir haben neue Matten und Kissen bestellt“, sagte er nach
einer Weile und strich sich dabei mit dem Daumen und dem
Zeigefinger der rechten Hand über sein Kinn. „Judith meinte,
Komo Eskapo / DIRK 26
dass neue Teilnehmer kommen würden, für die wir keine Matten
hätten. Sie hat mich gefragt, ob ich einen Polsterer in Accra
kannte, der Matten und Kissen herstellte. Wir sind zu ihm
gefahren und haben verschiedene Füllungen für die Kissen ausprobiert.
Dann haben wir den Stoff für die Matten ausgesucht. Judith
wollte farbige Stoffe haben, sie fand, dass die schwarzen eintönig
waren und eine schlechte Stimmung verbreiteten.“
Kenetty hielt inne, denn es war der Zeitpunkt für einen
persönlichen Kommentar gekommen. Es war nicht so, dass er
keine Meinung zu dem Vorgang hatte, aber er sprach sie nicht
aus. Er ließ sie einfach offen.
Kenetty war ein Künstler der Sprache, der die Beurteilung
des Kunstwerks dem Betrachter überließ. Er brach mitten in
seiner Beschreibung ab und wartete, was sein Gegenüber zu der
Sache zu sagen hatte.
Er war nicht feige, er versteckte seine Meinung nicht. Er
war höflich und wollte niemanden brüskieren. Er wartete, er
wartete so lange, bis die Zeit für ihn gekommen war. Und dann
kam ein Satz, kurz, bündig und trocken.
„Und, wie fandest du die Idee mit den farbigen Polstern?“
„Ich mag farbige Polster nicht. Wenn die Menschen da
sitzen, und versuchen, ruhig zu sein, stören Farben, weil sie
von dem Wesentlichen ablenken.“
„Und hat Judith euch gefragt, was ihr davon haltet?“
Er druckste und rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. Er
spürte, dass Dirk ihn ausfragte. Kenetty war loyal zu Dirk, so
loyal, wie Dirk noch nie jemanden getroffen hatte, er hatte in
jeder Situation zu ihm gestanden. Er beantwortete die Frage
nicht, sah auf seinen Teller und nahm seelenruhig ein Stück
von seinem Kenkey, einem Ball aus gegorenem Mais.
„Judith ist eine Weiße mit schwarzer Haut. Sie hat einen
Einfall und denkt, dass alle ihn gut finden. Sie will den Menschen
Gutes tun. Sie schenkt Kaffee aus, fragt aber nicht, ob
alle Kaffee vertragen.“
Komo Eskapo / DIRK 27
Dirk hatte erfahren, was er wissen wollte. Und er hatte
sich der Loyalität von Kenetty versichert. Manchmal fragte er
sich, was der Auslöser für Kenettys Verbundenheit war, und
nahm sich vor, ihn das eines Tages danach zu fragen. Im Augenblick
waren andere Dinge wichtiger.
„Wie steht es mit den Finanzen des Vihara? Haben wir Geld oder
Schulden?“
„Wir haben Geld, sollen aber Unternehmenssteuern bezahlen.
Ich bin in Verhandlungen mit einem Fachmann, der für das
Regierungsbüro der Finanzen ein Schreiben vorbereitet. Darin
wirft er der Steuerschätzung vor, uns falsch eingestuft zu
haben.
Er sagt aber auch, dass wir als Unternehmen unseren Status
ändern sollten, damit wir keine Steuern bezahlen. Die Basis
dafür sei, dass wir kein gewinnorientiertes Unternehmen sind,
sondern für das Wohlergehen der Menschen arbeiten.“
„Sehr gut! Ich sehe, du arbeitest dich immer tiefer in die
Materie ein.
Wie steht es mit unserem Sponsor?“
„Der Sponsor hat seine Produktpalette erweitert und hat
jetzt Käse und diverse Fruchtsaftgetränke im Programm. Das
Etikett ‚Biologisch‘ verliert immer mehr an Bedeutung. Es war
auch früher nur ein Aushängeschild, jetzt gibt es massive
Klagen aus der Belegschaft, dass sie wie Sklaven behandelt
werden.
An der Art und Weise, wie die Belegschaft sich gegen die
Arbeitsbedingungen wehrt, erkennt man die ersten Ergebnisse
unserer Arbeit im Vihara: Die Belegschaft ist mit den Worten
aufgestanden, dass sie nicht wieder Sklaven in ihrem eigenen
Land sein wollen.“
„Wobei das Ziel des Vihara natürlich keine Revolution ist.
Aber du hast recht, wenn du den Selbstwert der Menschen
ansprichst, mit dem sie sich auflehnen.“
Dirk überlegte, ob er weitere Neuigkeiten erfahren wollte.
„Und wie geht es dir mit der Arbeit und dem Vihara?“ Dirk
Komo Eskapo / DIRK 28
erwartete keine abendfüllende Antwort, aber vielleicht war
etwas vorgefallen, was Kenetty auf dem Herzen lag.
„Meine Schwester will heiraten und sucht einen Raum, in dem
sie die Gäste empfangen kann. Sie fragt, ob sie das halbe Kino
benutzen kann?“ (Das Kino konnte durch einen Vorhang in zwei
Hälften geteilt werden.)
„Hallo? Hattest du sie mir nicht als meine zukünftige Frau
vorgestellt?“
Bei einem früheren Besuch in Kenettys Elternhaus hatte
Manuel Kenettys Schwester aufgefordert, für Dirk ein kleines
Tänzchen aufzuführen, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.
Kenettys Mutter kam aus dem Haus herausgeschossen und zog ihre
Tochter mit abfälligen Kommentaren gegen Manuel ins Haus
zurück. Manuel hatte die Mutter ausgelacht und stattdessen
selbst ein paar Tanzschritte auf der Veranda aufgeführt.
Ein Mann war daraufhin herausgekommen, den Dirk für den
Vater hielt, schaute zum Himmel auf, gab Dirk die Hand und
nickte Manuel schweigsam zu. Unter den deftigen Kommentaren
der Mutter setzte er sich in einen Schaukelstuhl und
beschwichtigte die Mutter mit den Worten:
‚Die sind jung, Mama. Aber sie sind alt genug, zu wissen,
was sie tun.‘
„Das war meine jüngere Schwester. Die wartet immer noch auf
dich. Aber du musst dich ranhalten, sie hat viele Verehrer.“
Kenetty machte einen Schritt vorwärts und zog sein Hemd glatt.
„Du musst schon was vorzeigen, wenn du bei ihr landen
willst.“ Kenetty lachte in sich hinein und stellte sich Dirk
vor, wie er in einem Sonntagsanzug vor der Tür seiner Familie
stand.
„Du meinst mit Schlips und Kragen?“
„Na ja. Da steht ein steifer, dünner Weißer neben vor Kraft
strotzenden Schwarzen und hält um die Hand einer Schwarzen an.
Was meinst du, welchen sie besser findet?“ Kenetty konnte sich
kaum halten vor Lachen.
Komo Eskapo / DIRK 29
„Ist es neuerdings so, dass die Braut selbst entscheidet?
Früher hast du gesagt, dass die Mutter das entscheidende Wort
spricht.“
Kenetty wurde still und schaute auf den Boden.
„Meine Mutter ist gestorben“, sagte er leise.
„Das tut mir leid.“
Kenetty hatte einen Punkt irgendwo in der Ferne fixiert,
Dirk sah von der Seite, wie sich seine Augen mit Tränen füllten.
Dabei pulte er lustlos mit zwei Fingern in seinem Kenkey-
Ball, der in einem Bananenblatt vor ihm auf dem Tisch lag.
„Und wer ist jetzt das Oberhaupt der Familie?“
„Meine Tante.“
So, wie er ‚meine Tante‘ sagte, war klar, wie viel Sympathie
er für das neue Oberhaupt hatte.
„Was ist mit deinem Vater?“
„Der ist zu seiner Familie zurückgekehrt.“ Dabei machte er
mit der rechten Hand eine Bewegung, die Dirk zwischen wegwerfend
und weiter ins Landesinnere verstand. Das hieß aber, dass
der Vater für Kenetty nicht mehr erreichbar war.
„Wie geht es deiner Frau?“
„Sie hat viel mit dem Wochenbett zu tun.“
„Habt ihr noch ein Kind bekommen?“
„Ja, ein Mädchen.“
„Geht es ihm gut?“
„Ja, bestens.“
„Wohnst du in deinem Elternhaus?“
„Nein. Wir sind zu der Familie meiner Frau gezogen. Sie
haben ein großes Grundstück, auf dem wir uns gerade ein Haus
bauen.“
„Stein oder Holz?“
„Aus Stein.“
„Brauchst du Hilfe?“
Kenetty sagte nichts und machte fast unmerkliche Schaukelbewegungen
mit seinem Oberkörper.
„Du brauchst Geld für die Einrichtung?“, fügte Dirk hinzu.
Komo Eskapo / DIRK 30
„Ja“, sagte er nach einer Weile. „Wir wollen uns eine
eigene Küche bauen.“
„Ich werde mich darum kümmern“, sagte Dirk, der sah, wie
dringlich die Angelegenheit für Kenetty war.
Block Chain Spot
Als Dirk am nächsten Tag seine Mails checkte, fand er drei
Nachrichten, die ihn in Unruhe versetzten. Die erste war eine
Anfrage der Zeitschrift ‚Zusammen‘8, die beabsichtigte, eine
Reportage über den Vihara zu schreiben. Der Reporter kündigte
seinen Besuch in Winneba für die kommende Woche an und fragte
nach Unterkunftsmöglichkeiten.
Dirk las heraus, dass der Reporter davon ausging, dass der
Vihara sich darum bemühte. Wenn die Zeitung sich so eindeutig
für die Reportage entschieden hatte, sagte er sich, dann
konnte sie sich auch um die Unterkunft kümmern. Außerdem
wusste er nicht, welches Niveau Hotels der Mann erwartete.
Er schrieb zurück, dass er sich keine Gedanken machen
sollte, in Winneba gab es ausreichend Zimmer, und sie würden
schon eins für ihn finden, wenn er vor Ort war.
Dirk war zufrieden, denn seine Öffentlichkeitsarbeit hatte
gefruchtet und sich sogar bei der Presse herumgesprochen. Sie
hatten mit dem Vihara den Nagel auf den Kopf getroffen und
Dirk konnte berühmt werden. Bekam er endlich die Anerkennung,
nach der er sich so gesehnt hatte?
Die zweite Mail kam von der Deutsch Afrikanischen Gesellschaft.
Die Dame, mit der Dirk sich in Deutschland unterhalten
hatte, bedankte sich herzlich für das Gespräch.
Sie war Dirks Präsentationsmappe durchgegangen und vermisste
darin Informationen, wie der Vihara mit der ghanaischen
Regierung zusammenarbeitete. Die Gesellschaft, betonte die
Frau, sah sich grundsätzlich nur auf der Seite von Organisationen,
die eine Verbindung zu offiziellen Stellen pflegte.
8 ‚Zusammen‘ wird eine online- Zeitschrift sein, die täglich erscheint,
mit wöchentlichem Rückblick in Papierformat.
Komo Eskapo / DIRK 31
Dirk ließ die Mail liegen und nahm sich vor, sie später zu
bearbeiten. Eine Antwort musste in Richtung politische
Unabhängigkeit des Vihara gehen und einer Erwachsenenbildung,
die in den Programmen der Regierung nicht vorkam. Aber Dirk
hatte keine Lust, sich einen schönen Tag durch gestelzte
Formulierungen vermiesen zu lassen.
Denn die dritte Mail war der Hammer: Tim Schwager kündigte
an, nach Winneba zu kommen. Darauf freute sich Dirk, weil er
fand, dass Tim – nach dem nächtlichen Gespräch duzten sie sich
– ein cooler Typ war, der Humor hatte. Dirk antwortete ihm,
dass er seine Shorts einpacken sollte, weil es in Winneba heiß
werden konnte.
Die Mails, außer der von der Gesellschaft, waren als Block
Chain Spot auf Dirks Handy gekommen. Die App hatte sich als
mobiles Kommunikationsmedium durchgesetzt. Er war begeistert,
dass diese App ohne Intermediär auskam und langsam den Monopolisten
wie Facebook, Google, Microsoft und den chinesischen
Firmen das Wasser abgrub. Weil die Daten der Kommunikation nur
auf den Rechnern oder Handys der Benutzer lagen, gab es auf
dem Weg der Übermittlung keinen Datenmissbrauch mehr und keine
nervende Werbung.
Auf dem Weg zum Vihara traf er auf Manuel, der sich locker
mit einem Mann unterhielt. Als er sich ihnen näherte, löste
Manuel das Gespräch mit einem lauten Fingerschnippen und
klinkte sich bei Dirk ein, als wäre er der Tender einer Dampflok,
der aber nicht hinter, sondern auf einem extra Gleis
neben die Lok gekoppelt wurde.
Manuel machte ein paar Scherze zu zwei Frauen in ihrem
Alter, die ihnen auf der Straße entgegenkamen. Sie blieben
stehen und er schickte ihnen Komplimente auf Fante, die Dirk
nur teilweise verstand. Dirk war über die Art der Höflichkeiten
peinlich berührt, die eindeutig sexuelle Absichten im
Sinn hatten. Die Frauen aber schien das in keiner Weise zu
stören, sie hielten locker dagegen und nahmen Manuel in seiner
Männlichkeit auf den Arm, was ihn wiederum nicht abschreckte,
sondern zu animieren schien. Dirk fremdschämte sich für Manuel
Komo Eskapo / DIRK 32
und fand sich verklemmt, dass er nicht offen über seine
sexuellen Vorlieben sprechen mochte.
Auf dem weiteren Weg erzählte Manuel von einem Gespräch,
das er mit seinem Vater wegen des Grundstücks geführt hatte,
in dem er ihm erklärte, was sie damit vorhatten. Der hatte ihm
lakonisch geantwortet, wenn Manuel auf dem Gelände eine Farm
mit Bretterbude baute, käme er am nächsten Tag, um sie wieder
einzureißen.
„So spricht er halt“, kommentierte Manuel, „ein verbitterter,
alter Mann, der 6 Frauen und 17 Kinder hat und keine
Frau will mit ihm zusammenleben. Ich weiß aber“, sagte er und
verlagerte das Gewicht auf das andere Bein, wobei er seinen
Hintern präsentierte und seine Brust nach vorne streckte „dass
dieses Gelände meine Erbschaft ist. Er wird es mir nicht
streitig machen, auch wenn er anders spricht.“
Manuel sah Dirk an und Dirk entdeckte auf einmal einen
anderen Manuel, als er bislang gekannt hatte. Es gab den
leichtfüßigen Manuel, den Hallodri, der von seinem Charme
lebte und zu nichts und niemandem eine feste Beziehung entstehen
ließ. Alle wussten das, und Manuel wusste, dass alle es
wussten. Er war ein Spieler, der die Karten kannte, die seine
Gegner in der Hand hielten. Dieses Wissen setzte er ein, aber
keiner bemerkte es, weil er sich hinter der Maske des Hallodris
versteckte.
Als Dirk ihm in die Augen sah, blieb er stehen und so standen
sie eine Weile im Schatten eines großen Baumes, bevor sie
weitergingen. Hatte dieser Manuel mit diesen sanften braunen
Augen in ihn hineingesehen? Dirk hatte das Gefühl, eine Botschaft
erhalten zu haben, ohne Worte, eine Versicherung, eine
Bekundung oder wie man es bezeichnete. Er hatte keine Worte,
aber er hatte das sichere Gefühl, dass dieser Manuel, dieser
Leichtfuß mehr kannte, als er aussprach. Er hatte gerade das
Kapitel von einem Buch aufgeschlagen, von dem Dirk nur in
Ansätzen wusste, dass es ein Buch gab. Und er hatte ihm die
Hand gereicht und ihm versichert, dass sie die Kapitel gemeinsam
lesen würden.
Komo Eskapo / DIRK 33
Manuel wollte in dem Vihara sein und er wollte dadrin bleiben.
Es war ein tiefer Wunsch, etwas für den Vihara zu tun. Er
fühlte sich mit ihm verbunden, auch wenn die anderen dachten,
dass er nur mal so vorbeikam und für jemanden einsprang.
Dieses Bild hielt er aufrecht, denn seine Verbundenheit war
seine Sache, die er nicht an die große Glocke hängte.
Der Einzige, der das wusste, war Kenetty, der mit ihm zu
Schule gegangen war. Er war immer im Kielwasser von Manuel
gefahren und hatte genug Zeit, ihn zu beobachten. Er wusste,
wer Manuel war und auf welcher Seite sein Herz schlug.
Darum war er der Erste, der Manuel offen in die Augen sah.
Er wusste, dass Manuel alles dafür tun würde, den Vihara das
Gelände für sich nutzen zu lassen.
„Und was ist mit den Frauen von deinem Vater?“, fragte
Dirk, als sie im Vihara waren. „Werden sie das Gelände nicht
irgendwann für sich beanspruchen?“
„Mein Vater hat sie alle von der Erbschaft ausgeschlossen.
Seine erste Frau, die ein gesetzliches Erbrecht hat, ist in
die USA gegangen und hat dort einen anderen Mann geheiratet.
Damit kann sie nach ghanaischem Recht auch von der Erbfolge
ausgeschlossen werden.“
Judith und Dirk guckten skeptisch, Dirk wollte sich keine
endgültige Meinung bilden. Wenn es klappte, sagte er sich, war
es gut, wenn nicht, würde sich eine andere Möglichkeit
ergeben.
Judith sah erschöpft aus und kündigte an, dass sie sich um
ihre Kinder kümmern musste. Ihre ältere Tochter war in der
Pubertät, drehte sich im Kreis und brachte den Haushalt durcheinander.
Die Haushälterin fühlte sich überfordert und hatte
die Tochter angeschrien. Das hieß, Dirk musste die Meditationen
leiten, was ihm nicht in den Kram passte.
Als er das erste Mal wieder vor den Meditierenden saß,
überkam ihn eine solche Freude, dass er nicht wusste, was er
sagen sollte. Er hatte diese Gesichter so lange nicht gesehen,
die mit der sicheren Überzeugung ins Kino kamen, dass der Tag
Komo Eskapo / DIRK 34
gut war, wenn sie hier waren. Diese Menschen waren dankbar für
das Wenige, das Dirk ihnen bieten konnte.
In Deutschland hatte Dirk Charaktere getroffen, die alles
hatten und unzufrieden waren. Sofort wusste Dirk wieder, warum
er den Vihara in Ghana gegründet hatte und nicht in Deutschland.
Was wollte er diesen Menschen, den Afrikanern, den Ghanaern
vermitteln? Was konnte er ihnen bieten?
Dem Buddha waren kurz nach seiner ersten Erleuchtung die 12
Glieder aufgegangen, wodurch ein Mensch sich tief in das Leben
verstrickte und nur Notwendigkeiten um sich herum sah, die er
erfüllen musste.
Der Buddha nannte es das Leiden des Lebens und formulierte
damit die negativen Aspekte des menschlichen Daseins. Er hatte
diese Kette das Abhängige Entstehen9 genannt. Dirk hatte es um
seine eigene Interpretation ergänzt und sah es als den sozialen
Stress an, mit dem jeder sich spätestens auseinanderzusetzen
hatte, wenn er vor seine Haustür trat.
Als er diese Sichtweise einem buddhistischen Freund in
Deutschland schilderte, lachte der ihn aus: „Du sprichst wie
ein Eremit. Das soziale Geflecht ist da; das ist die Wirklichkeit
und nicht dein Traum von Abgeschiedenheit.“
Am Anfang dieser Kette tauchte die vorherrschende Gabelung
des Weges auf und der ‚normale‘ Mensch fällte in Unkenntnis
des richtigen Pfades die fatale Entscheidung für die Party. Er
zog die Karte und ahnte nicht, welche Bedingungen daran
geknüpft waren. Er endete im Samsara, dem sogenannten immerwährenden
Kreislauf der Wiedergeburten. Die Wiedergeburten
standen weniger für das Zeugen und Gebären von Kindern, als
für die wiederholte, falsche Entscheidung am Anfang und den
sich daraus ergebenden Konsequenzen, die zu einem nichtendenden
Wiedererscheinen auf der Erde führten.
Dirk suchte nach einem Ansatz, wie er das seinen Zuhörern
beibringen konnte, ohne sie zu verschrecken. In der buddhistischen
Formulierung führte das Ziehen der Partykarte zu
9 Das Abhängige Entstehen, Sanskrit: Pratiya-samutpada http://www.palikanon.
com/wtb/paticcasamuppada.html
Komo Eskapo / DIRK 35
Leiden und der Weg aus dem Leiden stellte die Basis der Lehre
Buddhas dar.
Konnten die Einheimischen mit dem Begriff Leiden etwas
anfangen? Sahen sie ihr Leben als leidvoll an? Und vor allen
Dingen: Was war die Alternative? Dirk fragte sich, ob die Ghanaer
glücklich und zufrieden waren. Wenn sie es nicht waren,
wie brachte er sie dazu, Glück und Zufriedenheit als das Leitmotiv
ihres Lebens anzunehmen.
Dirk entschloss sich, mit der positiven Aussicht auf die
Arbeit zu beginnen und sie dann vorsichtig zu fragen, ob sie
glücklich waren. Waren sie es nicht, gab er ein Bild davon,
was ihnen fehlte. Das konnte er das Leiden nennen, den
Defizit.
Der Buddha hatte dazu den umgekehrten Weg aufgezeigt, die
abhängige Befreiung10. Im Umkehrschluss fängt diese mit dem
Leiden an, geht aber davon aus, dass der Praktizierende
Meditation schon kennengelernt hat.
Dieser Verlauf eröffnet eine Kette von positiven Botschaften,
in dessen erstem Stadium der Meditierende die Ruhe
erkennt, die in dem Kopf eintritt. Später kommt Freude hinzu,
das Vertrauen darin, auf dem richtigen Weg zu sein und das
Glück, der tiefen Zufriedenheit mit sich und seinem Leben.
Die Meditation kannten die Teilnehmer. Sie hatten die positiven
Auswirkungen auf sich erlebt, sonst wären sie nicht
wiedergekommen. Dirk machte genau da weiter und leitete die
Meditation, indem er die Meilensteine der Abhängigen Befreiung
vorführte.
Um den Teilnehmern den Sachverhalt von Glück, Zufriedenheit
und dem Leiden zu vergegenwärtigen, erzählte er ihnen nach der
Meditation die Geschichte von dem Gott, dem die Welt zu Füßen
lag, und die er mit den Menschen bevölkern wollte. Der Gott
10 Die Abhängige Befreiung wird hier gut zusammengefasst:
http://samita.be/wp-content/uploads/2016/12/BS_Abh.-Entstehen-Befreiung-
04.06.2014-2.pdf
In den Lehren findet sich der Vorgang im Samyutta Nikaya 12:23
http://www.palikanon.de/samyutta/sam12_30.html
Komo Eskapo / DIRK 36
hatte sich rüde in das Abendprogramm der ARD geschaltet, das
Dirk sich an einem Sonntagabend ansah.
„Die ersten drei Welten“, trug der Gott vor, „sehe ich als
gescheitert an, ich war zu gutgläubig dem Menschen gegenüber.
Sie sind nicht in der Lage, das Gute zu bewahren. Neid und
Missgunst sind so tief in ihnen verankert, dass sie bereit
sind, Kriege dafür zu führen und ihre Welt zu verwüsten.
Die 4. Welt habe ich so unwirtlich gestaltet, damit die
Menschen schwer arbeiten mussten, um sie urbar zu machen. Die
schwere Arbeit hat ihnen alles abverlangt, trotzdem haben sie
Zeit gefunden, sich zu streiten und Kriege zu führen.
Diese Welt geht ihrem Ende zu, die Menschen streiten und
bekriegen sich immer noch. Aber sie haben dazugelernt, sie
haben erkannt, dass sie durch die Fortsetzung der Kriege nicht
weiterkommen. Der Krieg teilt in Sieger und Besiegte. Die
Besiegten werden niemals Ruhe geben, weil sie der Krieg zu
Menschen zweiter Klasse macht.
Darum gebe ich ihnen die 5. Welt. Den Ausweg und damit die
Gestaltung dieser Welt müssen sie selber in die Hand nehmen,
dumm sind sie ja nicht. Der Ausweg liegt direkt vor ihren
Füßen.
Ich habe die menschliche Welt in zwei Geschlechter geteilt,
so wie der Krieg in Sieger und Besiegte teilt. Lösen sie diese
Zweiteilung auf, werden sie den Reichtum finden, für den sie
vorher gestritten haben.“
Der Gott zog sein weißes Gewand aus und tauschte es gegen
ein schwarzes.
„Ich habe beschlossen“, sagte er, „ihnen ein bisschen zu
helfen. Ich spiele gern Theater“, er machte eine schreckliche
Grimasse, vor der sogar die fernsehfesten Kinder Angst
bekamen, und erschien so in den Träumen der Menschen. Dazu
verdunkelte er den Himmel und ließ die Sonne nur spärlich am
Horizont erscheinen.
„Sie werden Angst bekommen und sehr nachdenklich werden.“
Komo Eskapo / DIRK 37
Er drehte sein rechtes Ohr einem unbekannten Laut zu, der
sich wie ein Oberton verbreitete und sich ins Gehirn einnistete.
„Wie bitte? Sie finden, dass ich böse bin?“, fragte er.
„Wissen sie, ich habe in den vier vorherigen Welten über den
Menschen gelernt. Leider ist es so, dass die meisten Menschen
sich erst besinnen, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht.
Darum musste ich die Daumenschrauben anziehen. Tut mir leid,
wenn es Sie und weitere Unschuldige trifft.“
Der Gott beugte sich hinunter, um den Ausschaltknopf zu
suchen. Er kam noch einmal auf die Mattscheibe und lächelte
freundlich: „Viel Glück übrigens und viel Spaß in der Neuen
Welt. Denkt nicht so schlecht über euch! Ihr seid besser, als
ihr meint. Eigentlich seid ihr ganz gut gelungen.“
Er beugte sich hinunter. Diesmal schien er den Knopf
gefunden zu haben, denn der Bildschirm verblasste und das
Abendprogramm lief weiter.
Die Teilnehmer sahen Dirk erstaunt an, bis einer fragte:
„Wo bitte kommt in der Geschichte von dem Gott Glück und
Zufriedenheit vor? Ich kann nur einen Gott erkennen, der die
Menschen vor vollendete Tatsachen stellt.“
Dirk saß auf seinem Kissen vor den Teilnehmern und schielte
zu der Buddhastatue, die rechts von ihm stand. Dirk waren
immer Antworten eingefallen, wenn er den Buddha ansah. Heute
schwieg er und hatte das Gefühl, vor einer Tür zu stehen, zu
der er den Schlüssel nicht fand.
Er ließ die Geschichte von dem Gott noch einmal durch
seinen Kopf laufen. Sie war aus ihm geflossen wie ein köstlicher
Rülps, der ihn von Magendruck befreite. Doch der Gott
hatte wirklich nicht von Glück und Zufriedenheit gesprochen.
Was also sollte er dem Teilnehmer sagen? Dass der Gott nicht
wusste, was Glück und Zufriedenheit bedeutete? Dass Glück und
Zufriedenheit bei ihm nicht vorgesehen war? Oder sollte es in
dem lapidaren Hinweis stecken, dass die Menschen ‚nicht so
schlecht über sich denken sollten‘?
Komo Eskapo / DIRK 38
Dirk entschied sich zu dem einfachen Schachzug, die Antwort
offenzulassen und den Teilnehmern eine Hausaufgabe bis zum
nächsten Mal mitzugeben. Die Zuhörer schienen nicht unzufrieden,
konnten sie doch sehen, dass Dirk die Antwort auch nicht
kannte.
Die 'Zusammen'
Der Reporter der 'Zusammen' entsprach dem Klischee, wie Dirk
ihn sich vorstellte. Er hatte lange, lockige Haare, einen
Dreitagesbart und eine Hornbrille. Er brachte eine Fotografin
mit, in die Dirk sich sofort verknallte.
Dirk wollte sich nicht verknallen, weil das die Arbeit im
Vihara erschwerte. Er wollte lieber afrikanisch mehrere Frauen
haben und auswählen, welche für eine Zeit seine Geliebte war.
So kam keine feste Bindung zustande, und er blieb frei in
seinen Entscheidungen.
Mary, gebürtige Britin, freischaffende Fotografin aus
Berlin, stieg nur aus dem Taxi, und Dirk wusste sofort, dass
sie alle Sicherheitsvorkehrungen auf einmal durchbrach. Sie
war kaum ins Kino gekommen, als sein Puls schon auf Hochtouren
lief. Meditation hin oder her, dachte er, aber was konnte man
schon gegen Blitzeinschläge tun.
Während sie die Treppe ins Büro hinaufgingen, überlegte er,
wie er sich verhalten sollte. Er sah nur zwei Alternativen:
Entweder versteckte er seine Zuneigung und baggerte sie langsam
an, oder er zog es an die Öffentlichkeit. Dirk entschied
sich für die zweite Variante.
„Hübsche, blonde Fotografinnen sind in Schwarzafrika
eigentlich nicht erlaubt“, sagte er und schaute sie an. Er
erntete den zweiten Stich, als er in ihre grüngelben Augen
sah, die ihn wie eine Katze anschauten, absichtslos bereit.
„Warum“?, fragte sie mit einer Stimme zurück, die leider zu
dem Rest passte und Dirk ins Taumeln versetzte.
„Weil sie wie ein Erdbeben sind und die Arbeit durcheinanderbringen.“
Komo Eskapo / DIRK 39
„Ach so. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir vorher die
Haare schwarz gefärbt.“
„Ich befürchte fast, das hätte nicht gereicht.“
„Soll ich mir auch noch das Gesicht schwarz anmalen?“,
fragte sie.
„Das könnte helfen“, sagte Dirk, für den die Sache vorerst
abgeschlossen war.
Judith, Kenetty und Kai, der Reporter hatten danebengestanden
und lachten zu Dirks Anmache. Nur Manuel war merkwürdig
ruhig geblieben, als fühlte er sich an eine Begebenheit in der
Vergangenheit erinnert.
Kai fragte sie am nächsten Tag über den Vihara aus und Mary
machte Fotos von den Interviewpartnern und von den Einrichtungen
im Vihara, Manuel war nicht dabei.
Beide, Kai und Mary, kannten sich gut in buddhistischer
Meditation aus und wunderten sich über die Idee, in Afrika ein
Meditationszentrum zu gründen. Dirk erzählte ihnen, wie es
dazu gekommen war und was sie in Zukunft vorhatten.
Das Gespräch wurde lockerer und sie kamen sich näher.
Draußen ging ein tropischer Gewitterregen nieder, die Regentropfen
prasselten auf das Blechdach, dass sie sich rufend
verständigen mussten.
Gegen Abend nach der Meditation ließ Dirk Bier und Essen
kommen und sie unterhielten sich über Deutschland und wie sie
zu dem Vihara gekommen waren. Dirk und Kai hatten gemeinsame
Bekannte, an den gleichen Orten gelebt und in den gleichen
Kneipen verkehrt, sie gehörten zu der gleichen ‚Szene‘, hatten
sich trotzdem nie getroffen.
Judith berichtete von Jamaika, wie sie in Kingston aufgewachsen
und zum Studieren nach England gegangen war. Sie
erzählte über das raue Kingston, wo es viele Arbeitslose gab
und die Straßen nachts nicht vor Dieben sicher waren. Das
Highlight der Stadt waren die unzähligen Musiker, die die
Popularität der berühmten Reggaemusiker wie Bob Marley und
Peter Tosh nutzten, um sich einen Namen zu machen.
Komo Eskapo / DIRK 40
„Sie haben nichts“, sagte sie, „als den unbändigen Willen,
berühmt zu werden. Und wenn die Menschen von Jamaika eines
können, dann ist es, sich gut zu präsentieren.“
Das Gespräch kam auf die politischen Verhältnisse von Ghana
zu sprechen. Das Land hatte sich in den letzten Jahren
stabilisiert und im Gegensatz zu seinen Nachbarländern eine
innere politische Ruhe gefunden.
„Als Demokratie kann man das ja kaum bezeichnen“, sagte
Kai. „Die Kontrollmacht ist das Militär und dieser Präsident
Blankson ist doch nicht mehr als seine Marionette.“
„Ist Demokratie denn eine Regierungsform, die für alle
Völker empfehlenswert ist“?, fragte Dirk. „Im Abendland kann
man doch kaum noch von Demokratie sprechen. Ich denke da an
den unsäglichen Dieselskandal vor 15 Jahren, bei dem die
Industrie die Macht hatte, ohne Strafe einen Betrug zu
begehen.“
„Das ist Politik“, sagte Judith, „die lange funktioniert
hat. Trotzdem glaube ich, dass wir unsere Arbeit jenseits von
Regierungsformen sehen und nach den Menschen fragen sollten,
die vor uns stehen, wir sind keine Politiker. Was brauchen
sie, um in Frieden zu leben? Sicher mehr, als Politiker bereit
sind, ihnen anzubieten.“
Mary hatte ihr Runde beendet, in der sie jeden Winkel des
Versammlungsraums und des Kinos durch die Linse ihrer Kamera
betrachtet und abgelichtet hatte. Sie setzte sich zu den anderen
an den Tisch.
„Demokratie, das ist ein Begriff aus dem letzten Jahrhundert,
als Arbeiter und Frauen für ein Mitspracherecht gekämpft
haben. Heute ist das eine Formalie, ein Klappergerüst, das
noch keiner sich getraut hat, wegzuräumen, weil es angeblich
keine Alternative gibt.“
„Zumindest hat Demokratie allen eine Stimme gegeben und
nicht nur denen, die Einfluss hatten“, sagte Dirk. „Politische
Entscheidungen, das mag man so sehen, werden heutzutage in
Hinterzimmern unter Ausschluss der Öffentlichkeit, also der
des Volkes gefällt.“
Komo Eskapo / DIRK 41
Dirk überlegte. „Es ist interessant, wie Buddhas Haltung
dazu ist, zu dessen Zeiten es den Begriff ‚Demokratie‘ noch
nicht gab. Innerhalb des Sanghas herrschte so etwas wie Basisdemokratie.
Es gab keine Mehrheitsentscheidungen, es wurde
nicht abgestimmt. Es wurde Konsens gesucht, alle sollten
zustimmen. Nicht zufällig ist in der Zeit die Kunst der Dialektik
entstanden, mit der man den Andersmeinenden versuchte,
den Weg aus dem Leiden zu zeigen.
Die Idee dahinter ist einfach. Der Buddha lehrt, dass zwischen
dem Individuum und der Umwelt kein Unterschied besteht.
Auf dem Weg der Erleuchtung löst sich dieser scheinbare Gegensatz
auf. Wenn es keinen Gegensatz gibt, kommen auch keine
Andersmeinenden vor, wie sie bei demokratischen Mehrheitsabstimmungen
zurückbleiben. Mehrheitsentscheidungen führen immer
zu einer Aufspaltung zwischen der Mehrheit und der Minderheit,
die verärgert zurückbleibt. Buddhas Lehre ist auf Integration
bedacht und nicht auf Spaltung.“
Nach einer Pause fuhr Dirk fort. „Der Buddha war redegewandt
und erfuhr durch die beiden Erleuchtungen einen Schatz,
der den anderen Mönchen noch verschlossen war. Dabei überzeugte
er die Menschen, die mit Fragen zu ihm kamen, durch
Argumente.
Judith wird die Geschichte von Kisa Gotami kennen, die mit
ihrem sterbenskranken Kind zu dem Buddha kam und ihn um Medizin
anging. Da er erkannte, dass er das Kind nicht, aber die
Mutter retten konnte, schickte er sie mit der Aufgabe los, 3
Senfkörner zu holen, die im indischen Essen eine beliebte
Zugabe sind. Als Zusatzaufgabe gab er ihr mit auf den Weg,
dass die Körner aus einem Haus stammen sollten, in dem noch
niemand gestorben war. Da in indischen Häusern meist zwei,
meistens sogar drei Generationen zusammenleben, konnte sie
derartige Körner nicht auftreiben. Sie erkannte, dass sie ihr
Schicksal mit all den Menschen teilte, die ebenfalls Angehörige
durch den Tod verloren hatten. Auch wurde ihr die Vergänglichkeit
des Körpers bewusst, was später dazu führte, dass
sie eine Heilige wurde.“
Komo Eskapo / DIRK 42
„Das ist eine interessante Geschichte. Trotzdem stellt sich
mir die Frage, was es Besseres gibt als Demokratie?“, fragte
Kai und schenkte allen Bier nach.
„Besser, besser. Ich glaube, das ist schon die Falle. Ich
habe das Gefühl, dass in den letzten Jahren so viel an Demokratie
herumgefeilt wurde, und jeder Feiler so viel an seinen
eigenen Vorteil gedacht hat, dass von der Grundidee nur wenig
übrig geblieben ist.“
„Und trotzdem“, sagte Judith, „ging es immer weiter. Hier
in Ghana ist Demokratie ein Importprodukt, dass man sich eher
fragen sollte, worum es tatsächlich geht.“
„Und was soll das bringen?“, fragte Kai.
„Ganz einfach: Wir sollten uns die Menschen ansehen und uns
nicht mit Systemen beschäftigen.“
„Wie bitte? Was soll das bedeuten?“
„Ganz einfach! Irgendwann muss man bei Null anfangen und
das Überkommene beiseitelassen. Wenn man ein Leben ohne Zucker
will, reicht es nicht, auf Süßstoff umzusteigen. Ich
beschreibe damit unsere Arbeit, die wir hier machen.
Ghana ist ein zusammengewürfelter Haufen aus verschiedenen
Völkern. Sie haben kulturell wenig miteinander zu tun und
leben in den von den Engländern festgelegten Grenzen.
Dirk fing durch Zufall mit ein paar Menschen an zu meditieren
und merkte, dass er bei den Menschen offene Türen vorfand.
Dann wollte er wissen, ob er den Menschen mit dem, was
er von der buddhistischen Lehre verstanden hatte, weiterhelfen
konnte.
Er fragte sich, wo die Menschen waren. Er fand sie verstrickt
in eine dunkle Vergangenheit mit alten Göttern, denen
sie opferten, damit sie ihnen wohlgesonnen waren und sie nicht
mit Missernten bestraften.
Dirk fand das menschenunwürdig, von Göttern, der Vergangenheit
oder Unterdrückern aus dem eigenen Volk entmündigt zu
werden. Darum hat er diesen Vihara gegründet.
Ein Produkt von Meditation und den Lehren Buddhas ist
Selbstverantwortung, es gibt keinen Gott oder Götter, denen
Komo Eskapo / DIRK 43
man sein Schicksal überträgt. Schicksal bei Buddha ist Karma11
und Karma ist selbstgewirkt.
Es gibt nichts gegen die Naturgötter der ghanaischen Völker
einzuwenden, sie erziehen ihre Gläubigen zum pflegsamen Umgang
mit der Natur. Trotzdem sind diese Götter alt.
Sie haben keine Ahnung von Internet, sozialen Medien und
Werbung, die den Menschen ein Leben andreht und ihnen nicht
die Möglichkeit gibt, sich zu fragen, ob es das Leben ist, das
sie sich wünschen.
Das klingt nach einer naiven Idee und ist es wahrscheinlich
auch. Aber ganz so naiv scheint sie nicht zu sein, sonst kämen
nicht so viele Menschen zu unseren Veranstaltungen. Die Menschen
merken, dass die Meditation ihnen die Herzen öffnet.
Und die Menschen spüren, dass sie selbst dazulernen. Wir
sind nicht die Alleswisser wie die christlichen Kirchen, die
hier missioniert haben.“
„Was ist denn euer Ziel, wo wollt ihr hin?“, fragte Kai.
„Wenn du das Ziel des Vihara meinst, wollen wir ein Kloster
bauen, das als Meditationszentrum von Gästen genutzt werden
kann. Da wird es auch Übernachtungsmöglichkeiten geben. Es ist
ein Problem, dass auswärtige Gäste in den lokalen Hotels übernachten
müssen, die meistens sehr laut sind.“
„Wenn du Kloster sagst, dann meinst du Mönche, die hier
wohnen sollen?“
„Genau.“
„Wo kommen die her? In Afrika gibt es, wenn überhaupt,
christliche Mönche.“
„Wissen wir nicht. Das sind bislang nur Pläne. Wenn es so
weit ist, werden wir eine Lösung finden.“
„Warum macht ihr das gerade in Ghana? Warum nicht in
Europa, in Deutschland?“
„Wie gesagt, das hat sich so ergeben. Dirk hat da vorher
nicht drüber nachgedacht.“
„Wenn mich jemand gefragt hätte“, sagte Dirk, „hätte ich
einen Vihara in Europa aufgebaut, weil ich mich da auskenne.
11 Karma nennt man die Früchte des Denkens und Handelns. Eine Wirkung
kann in diesem, oder einem späteren Leben eintreten.
Komo Eskapo / DIRK 44
Aber ich hatte nie vor, einen Vihara zu gründen, und schon gar
nicht in Afrika.
Aber jetzt, wo wir hier sind, kann ich nur sagen, dass wir
hier haargenau richtig sind. Es macht Spaß, mit den Leuten
hier zu arbeiten.
Die Menschen, die kommen, stammen aus alten Kulturen, das
merkt man. Das hat manchmal Nachteile, weil sie konservativ
sind, ängstlich und wenig aufgeschlossen.
Das war Judith von Anfang an wichtig, weil sie die Konventionen
kannte, sie aber beharrlich ignorierte. Das hat den
Frauen Mut gemacht, die erkannten, wie tief sie in Konventionen
gefangen sind.
Alte Kulturen haben viele Phasen durchstanden, sie haben
Erfahrungen und gehen entspannter mit dem Leben um. Ereignisse,
wie ein plötzlich auftauchender Vihara, werden nicht so
hoch gehängt, sie haben nicht die Wichtigkeit wie in Europa.
Sie kommen und sie gehen, wie die Kolonialherren und hinterlassen
Spuren oder keine.
Was die Sache spannend macht, ist, nennen wir es das spirituelle
Herz zu finden. In Indien liegt es auf der Straße, man
kann jeden fragen, wie man Glück und Zufriedenheit findet.
In Ghana gibt es Götter und Geister und Trance und Musik,
in der die Menschen mit dem Überirdischen in Verbindung
treten. Aber ich habe noch nicht gesehen, dass ein Ghanaer
nach seinem Seelenfrieden sucht.
Die Götter und Geister sollen den Ghanaer, seine Familie
und die Natur beschützen. Es ist aber nirgendwo die Rede
davon, nach Wegen zu suchen, spirituelles Elend und Not zu
überwinden. Das ist eine Frage, die aber mindestens jeder
zweite Inder beantworten kann.
In Ghana spürt man ein spirituelles Herz, aber man sieht es
nicht, noch nicht. Wir haben uns deshalb entschlossen, nicht
auf dem indischen Auge danach zu suchen. Wir glauben vielmehr,
dass wir hier einen ganz neuen Brunnen finden werden.“
„Habt ihr Feinde? Ich meine, ihr kommt hierher, mietet ein
Kino und jeden Tag kommen 400 Leute zur Meditation. Die Kirche
Komo Eskapo / DIRK 45
oben auf dem Berg macht den Eindruck, als ob sonntags 50 sie
besuchen.“
„Haben wir uns noch nicht gefragt.“
„Wir stehen sicher unter Beobachtung“, sagte Judith. „Aber
das meine ich mit entspannt, sie geben uns Raum, uns zu entwickeln.
Ihre Götter gebieten ihnen das, mit dem Argument, dass
die Menschen mit unserem Erscheinen allein noch nicht wissen
können, ob wir ihnen nicht etwas Gutes bringen.“
Kai und Mary gingen am nächsten Tag durch das Dorf und machten
Interviews mit den Bewohnern. An der Universität, an der
Lehrer ausgebildet wurden, fanden sie Studenten, die mit ihnen
über Religion diskutierten. Sie hatten sich mit dem Thema auseinandergesetzt
und begründeten, warum sie sich für eine
bestimmte Religion entschieden haben.
Viele fanden Meditation spannend und waren auf Sitzungen im
Kino gewesen. Manche kannten das Kino von früher, hatten die
beliebten Kung-Fu-Filme dort gesehen und wunderten sich über
die neue Stimmung, wenn sie die Räume jetzt betraten.
Kai und Mary sagten später, dass sie einen deutlichen
Unterschied bei den jungen Leuten feststellten. Die akzeptierten
den Vihara nicht einfach, sondern wollten wissen, was
er ihnen brachte, sie waren neugierig.
Kai und Mary arbeiteten auch nachts oder früh morgens. Als
sie zur Abschlussbesprechung ins Büro kamen, war der Artikel
bereits online, sodass Judith und Dirk ihn lesen und freigeben
konnten.
Die beiden hingen zwei Tage Urlaub an ihren Aufenthalt
dran, zogen ins Beach Ressort und erholten sich am Strand. An
einem Abend feierten sie eine Grillparty, zu der Dirk auch
Kojo fragte, teils als Gegeneinladung für den Rundgang durch
sein Dorf, teils, weil er mit ihm befreundet sein wollte.
Manuel erfuhr von der Einladung und sprach, ohne Dirk anzusehen,
abfällig von Ausstellungsstück. Als Dirk verstand, was
er damit meinte, war das Gespräch mit ihm jedoch schon weitergegangen.
Bei Dirk blieb die Bemerkung hängen und er nahm sich
Komo Eskapo / DIRK 46
vor, Manuel bei der nächsten Gelegenheit zu fragen, worauf er
mit seinem Kommentar anspielte.
Kojo trug einen gebatikten, schwarzweißen Zweiteiler mit
kurzer Hose und Trägerhemd, eine gespiegelte Ray-Ban Sonnenbrille,
die ihn wie einen Gangster aussehen ließ und stoppelkurze
Haare. Er verzog keine Miene, Dirk hatte ihn bei keiner
Gelegenheit lachen, lächeln oder sich freuen sehen, Kojo war
cool bis ins Mark.
In seinem Dorf strahlte er die souveräne Gelassenheit eines
Mannes aus, der alles im Griff hatte und bei seinem Volk hoch
angesehen war. So gefährlich er sich gab, so sehr erinnerte
Kojo Dirk an die Queen von England, die von ihren Untertanen
für ihre Räuberpostillen geliebt wurde, die sie unters Volk
streute und um die sich die Zeitungen rissen.
Kojo stand mit den anderen im Sand, trank Akpeteshie12 mit
Zitronensaft und Eis und berichtete Kai von seinem Leben am
Strand. Der Reporter war hungrig nach Geschichten und Kojo
wurde warm und hatte Publikum, das um ihn herum stand und ihm
lauschte. Dann stieß Mary zu der Runde, die sich in ihrer
Kabine frisch gemacht hatte.
Als Kojo, der unbesiegbare Kojo Mary sah, erstarrte er. Das
war nicht sofort zu erkennen, weil er einfach stehenblieb und
jegliche Bewegungen von Muskeln einstellte. So hatte Dirk noch
nie einen Menschen gesehen, Kojo war wie eingefroren, ein
Standbild geworden. Kojo, Dirks Kojo, der seit dem Verkauf der
Inneneinrichtung zu seinem heimlichen Vorbild geworden war,
weil ihn nichts aus der Ruhe brachte, dieser Kojo hielt mitten
in der Geschichte an. Er blieb wie angewurzelt stehen und
bewegte sich nicht von der Stelle. Am liebsten wäre er
umgefallen, oder vor Begeisterung in die Luft gesprungen, wie
es halbwüchsige Jungen tun, die nicht wissen, wo sie mit ihrer
Energie bleiben sollen.
Kojo indessen zuckte einmal, durchpflügte den Sand mit
seinen starken Füßen und drehte sich wie eine Maschine im
12 Akpeteshie ist der Name für einen in Ghana produzierten Rum.
Komo Eskapo / DIRK 47
Stand, ohne einen Ausfallschritt zu tun oder sein Bein zu
heben, und ging grußlos in Richtung seines Dorfes davon.
Mary hatte die ganze Tragweite der Begegnung nicht mitbekommen,
oder hatte derartige Szenen schon so oft erlebt,
dass sie ihren Kopf kommentarlos wieder dem Wasser und der
Sonne zuwandte. Irgendetwas musste es aber hinterlassen haben,
denn aus ihrem Täschchen suchte sie gedankenverloren, ohne ein
Wort zu verlieren, Sonnencreme heraus, öffnete sie und
schmierte sich ein.
Manuel, der seine dritte Frau mitgebracht hatte, durchfuhr
ein Seufzer. Er sah Kojo lange hinterher, wie er versuchte,
die Verbindung zu den Partygästen zu kappen und unsichtbar zu
werden. Sein Gang war schwer, wie der eines Roboters. Manuel
hatte sich so intensiv in Kojo hineinversetzt, dass er sogar
seine Drehung mitmachte, als der beschloss zu gehen.
Einzig Dirk klatschte in die Hände, derweil Kojo sich nach
seiner Einschätzung weit genug entfernt hatte und machte das
Zeichen für das Ende der Filmszene. „Das haben wir im Kasten“,
sagte er auf Englisch, „war ja schwierig genug.“ Manuel und
Kenetty sahen Dirk erstaunt an, was er aber nicht registrierte.
Kai drehte sich um und sagte: „So geht das die ganze Zeit.
Kaum taucht Mary irgendwo auf, verfallen die Männer in Starre
oder sie bekommen den unaufhörlichen Redeschwall, was genauso
nervig ist. Wahrscheinlich sollte ich lieber darüber eine
Geschichte schreiben, als über einen Vihara.“
Mary drehte sich vom Meer weg. „Ich weiß auch nicht, was
die alle von mir wollen. Habe ich denen etwas getan?“
„So habe ich Kojo noch nie erlebt“, sagte Dirk. „Wenn ein
Mensch die Ausstrahlung eines Tigers hat, dann ist es Kojo.
Ich habe selten jemand gesehen, der so unbeweglich warten und
beobachten kann, wie dieser Mensch. Und dann, hat er sich einfach
umgedreht. Gut, einfach wird es nicht für ihn gewesen
sein, sein Beuteschema für die guten Sitten aufzugeben. Ich
habe mich gerade gefragt, was er gemacht hätte, wenn er allein
auf Mary getroffen wäre.“
Komo Eskapo / DIRK 48
„Was meinst du wohl, Herr Psychologe?“, fragte Judith.
„Ich bin mir da gar nicht so sicher. Er mag zwar der Häuptling
sein, aber ich glaube, er ist sehr höflich. Oder meinst
du, er hätte sich Mary wie KingKong geschnappt und sie mit
lautem Grunzen zu seinem Nest geschleppt?“
Dirk und Kenetty begleiteten Kai und Mary am nächsten Morgen
zu dem Taxi, das sie zum Flughafen brachte. Mary rutschte der
kurze Rock hoch, als sie sich in den engen Sitz des Helikopters
schlängelte. Dirk hatte geahnt, gewünscht, dass das
passierte, und war die Zehntelsekunde dabei, als ihre Unterwäsche
unter dem Rock hervorblitzte. Er war so gebannt von dem
Anblick, dass er auch nicht wegsah, als Mary ihn ansah und
seinen Blick bemerkte.
„Ich warte auf dich“, hörte er sie zärtlich sagen, während
sie sich den Rock zurechtzog.
Kenetty füllte die entstandene Pause, in der Dirk nicht
antwortete.
„Das wünschen wir euch auch für euren Flug. Und schickt
eine kurze Nachricht, ob ihr heil angekommen seid.“
Die Friseurin
Dirk hatte einen festen Tagesablauf. Er brauchte Ordnung, um
sich das Gefühl zu geben, sich notfalls an ihr aufzurichten.
Er stand im Morgengrauen auf und machte auf seinem Balkon
eine halbe Stunde Yoga. Der zeigte Richtung Osten und meistens
ging mit den Übungen die Sonne auf. Das morgendliche Spiel der
Wolken war jeden Tag anders, für einen kleinen Spalt, durch
den die Sonne wenigstens kurz ihre Strahlen schickte, reichte
es immer und gab Dirk die Gelegenheit, sie zu begrüßen.
In der Küche im Erdgeschoss machte er sich Frühstück, dass
er, falls außer ihm keiner wach war, mit auf sein Zimmer nahm.
War das Wetter gut, joggte er danach 500 Meter durchs Dorf an
den Strand herunter. Er nahm ein Bad und wenn es die Brandung
Komo Eskapo / DIRK 49
erlaubte, tauchte er durch sie hindurch hinter die Wellen und
schwamm in dem ruhigen Wasser auf und ab.
Auf dem Rückweg durch das Dorf rief ihn eines Tages eine Frau
herbei, die mit zwei anderen Frauen auf einer Veranda saß.
„Oburoni13, come here“.
Dirk ließ sich nicht gerne aufhalten. Er betrachtete die
Frauen aus dem Augenwinkel und ordnete sie als den Typ
Klatschbasen ein, mit denen er sich nicht gern über persönliche
Dinge unterhielt.
„Du läufst jeden Tag hier vorbei, da wollte ich mich dir
einmal vorstellen. Ich heiße Luissa und habe einen kleinen
Frisörladen hier.“
Sie deutete auf die Räume hinter der Veranda, in denen man
mit Wohlwollen ein Frisörladen entdecken konnte. Dirk sah
einen Spiegel, ein Regal und so etwas wie einen Frisierstuhl,
vermisste aber das sonstige Interieur, das für ihn zu einem
Frisiersalon dazu gehörte.
Dirk nahm die zwei Stufen zu der Veranda und begrüße die
drei Frauen noch etwas außer Atem. Sie betrachteten ihn aufmerksam
und genau, Dirk fand eher, dass es ein Taxieren war,
weil sie dabei süffisant lächelten.
„Du bist schlank und sportlich. Da haben wir uns gefragt“,
sie deutete auf ihre beiden Freundinnen, „was du eigentlich
für ein Typ bist. Uns gefällt dein Laufstil, so wie du auf dem
Weg zum Strand an uns vorbeiläufst. Wenn du zurückkommst und
gehst, bist du dir deiner Sache nicht mehr so sicher, du stolzierst
mit steifen Beinen an uns vorbei und bist mit deinen
Gedanken woanders. Wir haben uns gefragt, ob du weißt, wer du
bist. Oder möchtest du jemand sein, der du nicht bist?
Oburoni, du hast keine Frau, noch nicht mal eine Freundin.
Alle Männer sollten eine Frau haben, weil sie sonst von innen
austrocknen und ihren Fantasien nachhängen.“
13 Oburoni bedeutet in Fante oder Fanti „Weißer Mann“. Fante ist die
Sprache der Fante (Volksgruppe der Akan) und wird vor allem in der ‚Central
Region‘ von Ghana gesprochen.
Komo Eskapo / DIRK 50
Dirk war wie vor den Kopf geschlagen. Er kam zurück vom
Schwimmen, hatte mit keinem gesprochen und lebte in seiner
eigenen Welt, die sich noch nicht auf Meinungen anderer eingestellt
hatte. Dirk fühlte sich nicht dialogfähig, er hatte
seine ‚Draußen‘-Figur noch nicht angezogen, er war im Schlafanzug.
Am liebsten hätte er sich umgedreht, die Veranda verlassen
und wäre, ohne ein Wort zu sagen, weiter gelaufen.
Dirk sah die drei Frauen an, die erwartungsvoll vor ihm
standen. Sie hatten einen Aufschlag gewagt. Es war ihnen nicht
leicht gefallen, diesen weißen Mann einfach heranzuwinken.
Bei einem Einheimischen war das normal, man winkte sich
heran und begann ein Gespräch. Wollte jemand nicht sprechen,
senkte er den Kopf, das respektierten die Menschen. Wenn doch,
war es an der Tagesordnung, abweisend und einsilbig zu bleiben.
Was würde dieser Whitie machen, der im ganzen Dorf bekannt
war und über den lauter Geschichten kursierten. Sie ließen es
darauf ankommen, was passierte.
Dirk hatte sich in den Kopf gesetzt, echt zu bleiben und
sich nicht durch Konventionen zu irgendeiner Person zwingen zu
lassen. Dabei suchte er Harmonie, war freundlich und unterhaltsam
und übte sich in Humor. Dirk wollte gemocht werden,
respektiert, überall gern gesehen sein, aber er wollte echt
bleiben. Und das alles auf nüchternen Magen, sagte er sich,
und hörte das Magenknurren, das ihn ans Frühstück erinnerte.
Die Rettung erschien in Manuel, mit dem er öfters durchs
Dorf spazierte und von dem er Winneba-Gesprächsverhalten
gelernt hatte. Manuel hatte bei den Spaziergängen auf einige
Leute reagiert, wie Dirk an schlechten Tagen in Hamburg
antwortete, wenn er in seinem Viertel auf der Straße angesprochen
wurde: Gar nicht. Blickkontakt aufnehmen, aber nicht
sprechen, heute nicht.
Dirk setzte ein freundliches Lächeln auf und sagte zu den
drei Ladies das, was sich in ihm meldete: Das Magenknurren.
„Danke, dass du mich eingeladen hast“, sagte er zu der
Sprecherin, „aber ich habe gerade eine Nachricht von meinem
Komo Eskapo / DIRK 51
Magen bekommen, der heute noch nicht gefrühstückt hat. Ich
gebe ihm das, was er braucht, und dann komme ich wieder und
unterhalte mich mit euch.“
„Keine Eile Oburoni, wir warten hier auf dich.“
Dirk war froh, vorerst den Schlangen entkommen zu sein.
Später, das fand er an Ghana angenehm, konnte auch in zwei
Wochen sein.
Auf dem Restweg nach Hause fragte er sich, warum diese
Frauen so viel über ihn wussten. Er war der einzige Weiße im
Dorf, es wurde über ihn getratscht, was sich in den Hinterhöfen
rasend schnell verbreitete. Doch was meinten sie mit
‚nicht wissen, wer er war‘? Das, was sie da zum Besten gaben,
war kein Tratsch, das hatten sie sich selber aus den Fingern
gesaugt. Dirk fühlte sich von den Frauen durchleuchtet. Dirk
fand es schrecklich, wenn er mit offener Hose durch die Gegend
lief und die Leute über ihn lachten.
An der Ecke zur Hauptstraße war er zurück bei sich mit der
Antwort, die er suchte. Die musste natürlich aus dem Kontext
seiner Vorträge kommen. Diese Frauen waren potenzielle Mitglieder
des Vihara.
Dirk sprach mit Kenetty und Manuel über den Vorfall, die
ihn zum Frühstück besuchen kamen.
Kenetty nickte wie immer mit dem Kopf, wenn er zu einer
Sache etwas zu sagen hatte, die Formulierung aber über den
einen Entwurf nicht hinauskam. Er behielt den Entwurf für sich
und Dirk hatte die Erfahrung gemacht, dass es nichts nutzte,
näher nachzufragen, Kenetty sprach nicht in Kladde, nur in
Reinschrift. Wenn man ihm Zeit ließ, kam er irgendwann ganz
von alleine mit der Reinschrift. Das konnte allerdings Stunden,
manchmal auch Tage dauern.
„Das ist anders als in Deutschland“, sagte Manuel zu dem
Thema. „Wenn in Deutschland sich jemand mit ‚Wie geht es dir?‘
nach deinem Befinden erkundigt, ist es ernst gemeint, und er
möchte tatsächlich wissen, wie deine Stimmung ist.
In Ghana sind die Menschen nicht so sehr an der Wirklichkeit
interessiert, als wie du diese ausschmückst. Ghanaer
Komo Eskapo / DIRK 52
haben kein Problem damit, wenn du ihnen heute eine Version der
Geschichte erzählst und morgen eine andere. Sie werden nicht
beide Versionen vergleichen, und dich der Lüge bezichtigen,
wenn eine falsch war.
In Ghana liebt man Geschichten, erfundene, am besten, wenn
sie eine Pointe haben, von Geistern oder Göttern handeln und
wenn sie eigentlich unwahrscheinlich sind, von den Geistern
aber gedeckt werden.
Du kannst ruhig erzählen, dass gestern deine Oma gestorben
ist und morgen, dass sie sich beim Holzhacken einen Finger
abgeschlagen hat. Hauptsache, sie ist mit dem abgehackten
Finger ins Krankenhaus gekommen. Weil der Arzt gesagt hat,
dass der Finger spätestens in zwei Stunden wieder angenäht
werden musste, ist der Krankenwagen besonders schnell
gefahren, und es hat einen Unfall gegeben. Die Oma wurde aus
dem Krankenwagen geschleudert und ist unter einem Baobab14 Baum
am Boden aufgeschlagen. Es muss ein Baobab sein, weil dem
übersinnliche Kräfte zugesprochen werden. Als die Krankenpfleger
mit der Trage kamen, um die Überreste von der Oma aufzulesen
und auf die verletzte Hand sahen, stellten sie zu ihrer
Verwunderung fest, dass der Finger wieder ganz war. Man
erkannte noch nicht einmal die Spuren, die die Axt hinterlassen
hatte.
Verstehst du, was ich meine? Wenn diese Frauen dich also
ausfragen, dann wollen sie sich bei dir einhängen, wir nennen
das ‚hook‘.
Haben sie dich erstmal am Haken, bist du ihnen ausgeliefert,
weil sie anfangen, Geschichten über dich zu verbreiten.
Also musst du ihnen zuvorkommen.“
„Woher weißt du das alles, wie das in Deutschland funktioniert?
Warst du mal da?“
Manuels Gesichtszüge veränderten sich schlagartig, seine
ansonsten weichen Lippen spannten sich, die Augen wurden
schmal, er legte den Kopf trotzig in den Nacken.
14 Der Baobab (Affenbrotbaum) ist ein in ganz Afrika verbreiteter Baum,
der wegen seines ausgeprägten Stamms bewundert wird.
Komo Eskapo / DIRK 53
„Ich habe in der 2. Liga bei Heilbronn als Profi gespielt
und an der Uni studiert.“
Er schwieg abrupt, und Dirk sah, wie ihm die Tränen in die
Augen schossen.
„Sie haben ihn zurückgeschickt“, sagte Kenetty, als er sah,
dass Manuel nicht weitersprechen wollte. „Er hatte eine eigene
Wohnung, eine deutsche Freundin, die blond war und an der Uni
seinen Bachelor in Architektur abgeschlossen.“
Beide schwiegen und Dirk wartete darauf, dass sie weiter
erzählten. Doch Manuel stand einfach nur da und deswegen
sprach Kenetty nicht weiter über die Angelegenheit.
„Das heißt, sie haben dich ausgewiesen?“
Manuel nickte langsam mit dem Kopf, sagte aber nichts. Dirk
wollte gerade weiter bohren, weil ihn Manuels Schicksal
interessierte, als er sich an seinen Vortrag von vorhin erinnerte,
in dem es um die Wahrheit ging.
Die Sache schien bei Manuel einen Kloß hinterlassen zu
haben, Dirk spürte seine Ablehnung. Dirk ließ die Geschichte
auf sich beruhen. Manuel sollte selbst entscheiden, ob er mehr
darüber erzählen wollte.
Nach dem Frühstück gingen sie zum Kino, um die Meditation für
den Tag vorzubereiten. Auf dem Weg kamen sie bei den Frauen
vorbei, und Dirk wollte die Veranda betreten, um seine
Geschichte loszuwerden. Kenetty schaute Dirk an, neigte seinen
Kopf zur Seite und signalisierte ihm, weiterzugehen.
Dirk verstand, was er meinte, denn die Frauen waren
beschäftigt, frisierten und unterhielten sich mit ihren Kundinnen.
Trotzdem fühlte Dirk sich verpflichtet den einmal
angefangenen Vorgang zu Ende zu bringen. Kenetty machte noch
einmal seine Kopfbewegung, diesmal eindeutiger, fast ungeduldig.
„Lass uns gehen“, sagte er leise, als wollte er Dirk
warnen.
Dirk zog eine Visitenkarte vom Vihara aus der Tasche und
beabsichtigte, zumindest die dazulassen. Es passierte, was
nicht passieren sollte. Die Frauen wandten sich Dirk zu, musKomo
Eskapo / DIRK 54
terten ihn und arbeiteten weiter. Dirk spürte eine unsichtbare
Kraft, die ihn in den Salon hineinzog.
„Wir haben hier auf dich gewartet. Einen so schönen Mann
und dazu noch einen Weißen, haben wir einfache Frauen selten
in unserer Nähe“, sagte Luissa und drehte sich zu den anderen
Frauen um, die Dirk bewundernd und spöttisch ansahen.
„Du könntest einen Haarschnitt vertragen, deine Haare sehen
aus wie eine Löwenmähne. Aber du bist gar kein Löwe, eher ein
Samtpfötchen, das leise vorbeistreicht und nach einem Tellerchen
Milch lungert.“ Die Frauen sahen sich an und lachten.
Dirk hielt die Visitenkarte in der Hand, er streckte sie
vorwärts, wollte sie jemandem reichen, aber die Frauen
interessierten sich nicht für seine Karte.
„Heute ist der Krankenwagen vorbeigefahren. Er hat eine
alte Frau mitgenommen. Sie hat sich beim Holzhacken den Finger
abgeschlagen, die ganze Hand war voller Blut. Wir haben
gesungen und Gott gebeten, ihr den Finger wieder zu geben.
Ihre Tochter hat ein Huhn geschlachtet und hat ihr die
Schwanzfedern an die Waden geheftet. Die arme Frau!“
„Wann kommst du zum Haareschneiden. Wir werden aus dir
einen richtigen ghanaischen Mann machen. Deine Frau auf der
anderen Seite des großen Wassers wird stolz auf dich sein.“
Dirk wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte Angst vor
dem Gelächter dieser Frauen, die ihn provozierend ansahen.
Sein Magen knurrte schon wieder.
„Ähm“, sagte er, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, „der Baobab
Baum wird sie heilen.“
Die Frauen verstummten. Jetzt, sagte er zu sich, bitte
schnell das Thema wechseln.
„Wie kommt es, dass drei so hübsche Frauen an einem so
schönen Tag arbeiten müssen? Ich habe vier Liegestühle am
Strand reserviert und Drinks kaltstellen lassen. Der Wanderer
ist gekommen, um euch seine weite Welt zu zeigen. Draußen auf
Komo Eskapo / DIRK 55
dem Meer warten seine weißen Boten15, die die Worte dahin
tragen, wo die Sonne nicht untergeht.“
Dirk hatte die Visitenkarte vor lauter Nervosität inzwischen
zu einer Schwalbe gefaltet, die er zu ihrem Jungfernflug
auf die Veranda fliegen ließ. Dort landete sie vor Manuels
Füßen, der sie aufhob und in den Frisörladen kam.
„Glaubt ihm nicht, er ist betrunken. Er ist betrunken von
der Liebe und der Sonne und von dem Meer, das ihn an den
Strand geschleudert hat. Verzeiht ihm, denn der Anblick von
drei so schönen Frauen hat ihn die Besinnung verlieren
lassen.“
Manuel nutzte die Gelegenheit, stellte sich hinter Dirk und
schob ihn, der sich wehrte, als würde man ihm die Decke wegziehen,
aus dem Frisörladen.
Beide stolperten die Verandatreppen hinunter, fielen
Kenetty in die Arme und humpelten Arm in Arm, Betrunkene
mimend die Dorfstraße Richtung Meer.
„Das war knapp“, sagte Kenetty anerkennend.
„Mit offenem Ausgang. Und Manuel kam zur rechten Zeit. Die
Zeitschleuse begann sich gerade zu schließen.“
„Die Zeitschleuse, die Zeitschleuse“, sangen sie und verschwanden
in der Ferne.
„Hast du es jetzt verstanden, wie es geht?“, fragte Manuel.
„Ich müsste Fante lernen, um die Magie der Worte vollkommen
zu entfalten.“
„Stopp jetzt Dirk. Du musst heute Mittag die Meditation
leiten. Die Menschen brauchen dich.“
„Du hast ja recht.“
Tim Schwager kam zusammen mit seinem Kameramann, sie schwitzten,
als sie sich die Treppe zum Büro hinaufkämpften.
„Ich hoffe, du hast deine kurze Hose mitgebracht“, empfing
ihn Dirk, der mit Judith und Kenetty darüber sprach, was sie
15 Die weißen Boten sind die Möwen aus dem Norden, die ihren traurigen
Gesang an die westafrikanischen Küsten tragen. Die Afrikaner glauben, dass
sie ihnen die Fischbestände wegfressen.
Komo Eskapo / DIRK 56
sich für das Gelände wünschten, das Manuel dem Vihara zur Verfügung
gestellt hatte.
„So kurze Hosen kann man gar nicht anziehen, wie es hier
heiß ist“, antwortete Tim. „Aber wir haben die neueste Sonnencreme
dabei. Die schützt nicht nur vor UV-Strahlen, sondern
kühlt gleichzeitig.“
Alle standen auf und begrüßten sich, Dirk war außer sich
vor Freude, für ihn war ein guter Freund gekommen. Endlich
jemand, dachte er sich, mit dem er sich frei von der Leber
unterhalten kann, ohne Beschränkungen, ohne Form, ohne Zurückhaltung.
„Viel geholfen hat sie aber nicht, wenn ich euch so
betrachte.“ Die Haare klebten ihnen im Gesicht und die Haut
der Beine hatte eine rötliche Färbung angenommen.
„Wir haben noch geduscht, bevor wir losgegangen sind.
Axel“, er zeigte auf den Kameramann, „hatte den guten Vorschlag,
sich nicht abzutrocknen, um den kühlenden Fellflascheneffekt
der Wüstenfüchse zu nutzen.“
Der Kameramann baute sich breitbeinig auf, nahm die rechte
Hand vor die Brust und verbeugte sich vor allen.
„Ich grüße euch. Es ist mir eine Freude, hier zu sein.“
„Darf ich euch etwas zu trinken anbieten? Wasser, Kaffee,
O-Saft oder Kola“, sagte Dirk.
Kenetty nahm die Bestellungen auf, kochte Kaffee und
stellte eine Karaffe mit Orangensaft und eine mit Wasser auf
den Tisch. Dazu schüttete er Erdnüsse in ein und Rosinen in
ein anderes Schälchen.
„Hattet ihr eine gute Reise“, fragte Judith.
„Wir hatten eine sehr gute Reise. Wir sind in dem Solarglider
gefahren, der wirklich durch die Luft gleitet und wunderbar
ruhig ist.“
„Davon habe ich schon gehört“, sagte Kenetty. „Aber ist das
nicht unangenehm, wenn das Flugzeug am Anfang so hochkatapultiert
wird?“
„Ganz und gar nicht! Gut, zumindest nicht für mich, ich
liebe Geschwindigkeit. Außerdem fasziniert mich die Technik,
Komo Eskapo / DIRK 57
wie ein Flugzeug zuerst von einem mechanischen und dann von
einem Anti-Gravitationsimpuls in die Höhe geschleudert werden
kann.
Und dann der zweite Teil der Reise, der so vollkommen
anders ist als der erste. Man hört nichts von dem Ionenantrieb
und spürt auch nichts von den, ich glaube, 100.000 Volt, die
der Antrieb benötigt. Ich weiß nicht, ob ihr jemals in einem
Segelflugzeug gesessen seid, so ähnlich ist das mit dem Solarglider.
Gut, braucht halt ein bisschen länger als die herkömmlichen
Jets.“
Nach dem Kaffeetrinken machten sie einen Gang durchs Dorf,
um den beiden ein Gefühl für das Leben in Winneba zu geben. Da
alle ständig meinten, Tim und Axel irgendetwas erklären zu
müssen, sahen sie aus wie Investoren, die man auf Filetstücke
aufmerksam machte, und wurden von den Einheimischen neugierig
beäugt.
Sie kamen am Fußballplatz, einem Schlackeplatz vorbei. Der
wurde als Gelände für politische Veranstaltungen und die
mobile Disko benutzt, die mindestens einmal im Jahr in Winneba
aufspielte.
Am Tempel der Schutzgöttin für das Fischervolk, das unten
am Hafen lebte, mussten sie die Geier vertreiben, die den als
Müllhalde benutzten Platz nach verwertbaren Überresten durchforsteten.
Die Geier wichen widerwillig und hopsten schrittweise
weiter. Als Dirk sie verscheuchte, weil er die Anwesenheit für
die Gäste bedrohlich fand, hielt ihn Kenetty sanft zurück und
sagte:
„Die Fischer sehen es nicht gerne, wenn man die Vögel verjagt.
Sie sehen die Vögel als Tempelwächter an, die im Kontakt
zu der Göttin stehen, und sie über alles informieren, was im
Fischerdorf vor sich geht. Machen die Fischer eine große Ausfahrt
mit allen Boten, bringen sie Opferfische am Altar dar,
die die Geier daraufhin zu der Göttin tragen.“
Tim hatte noch nie etwas von ‚Opferfischen‘ gehört und
fragte Kenetty, wo die Göttin wohnte, und ob die Fische denn
Komo Eskapo / DIRK 58
heil bei ihr ankamen, oder die Geier sie nicht unterwegs auffraßen.
Kenetty antwortete nicht, sondern betrachtete den
Altar, der gut hätte eine Reinigung vertragen können.
Auf dem weiteren Weg kamen sie bei einem Unterstand aus
Beton vorbei, der nach 2. Weltkrieg aussah. Durch das schlitzartige
Sichtfenster fiel etwas Tageslicht in einen unterirdischen
Raum, an der einen Seite führt eine Treppe hinab zu
einer Tür.
Manuel ging auf den Bunker zu und traf einen mittelalten
Schwarzen mit sonnenzerfurchtem Gesicht, der in der Tür
erschien und Manuel ghanaisch begrüßte, was mit dem Schnippen
der Finger endete.
Der Mann lud die Gruppe in den Unterstand ein, in dem es
angenehm kühl war. Kalter Rauch stand in der Luft, in einem
improvisierten Aschenbecher lagen die Reste von kleinen Joints
und Filterzigaretten.
Der Unterstand hatte vier Sitzplätze, gemacht aus einem
Plastikgeflecht, das an einem Stahlrohrrahmen befestigt war.
Das sah komfortabel aus, die breiten Plastikstreifen waren
aber an einigen Stellen mit Knoten geflickt und das Stahlrohr
kam durch.
„Long time we no had a Lady down here“, sagte der Mann,
hinten in der Ecke gab ein zweiter Mann seinen Stuhl frei und
bot ihn den Gästen an.
Judith sah den Unterstand zum ersten Mal und begrüßte die
beiden Männer auf Fante.
„Kann ich hier filmen?“, fragte Axel und zog seinen Camcorder
aus der Tasche.
Kenetty übersetzte und die beiden Männer sahen sich die
Kamera an. Sie verstanden jedoch nicht, warum irgendjemand in
ihrem Verschlag filmen wollte, hatten aber nichts dagegen.
Dirk sah durch den schmalen Schlitz nach außen, um festzustellen,
was man von innen außen sah. Es war erstaunlich viel,
man hatte die ganze Straße vom Fischerdorf bis hinauf zu dem
Altar im Blick. Dabei wurde der Beobachter selbst nicht
gesehen.
Komo Eskapo / DIRK 59
Als er sich gerade umdrehte, um sich den Gästen zu widmen,
liefen zwei Paar Vogelfüße an dem Schlitz vorbei, die zu zwei
Geiern gehörten. Das war nicht weiter bemerkenswert, bis auf
die Tatsache, dass einer der Geier sich bückte und durch den
Schlitz in den Raum sah. Das Tier schien sich nicht zu fürchten,
denn es hielt dem Blick stand, als Dirk es ansah.
Dirk hatte die spontane Idee, legte die rechte Hand auf die
Brust und verbeugte sich vor dem Tier. Das sahen die beiden
Männer aus dem Augenwinkel, die sich mit Judith unterhielten.
Der eine machte eine wegwerfende Handbewegung, wie um damit
auszudrücken, dass es der Mühe nicht wert war, aber er verscheuchte
das Tier nicht. Der Geier trottete weiter und war
bald außer Sicht.
Das Gespräch war beim Fischfang und Tim unterhielt sich mit
Kenettys Hilfe über die Art der gefangenen Fische und deren
Verarbeitung. Währenddessen filmte Axel alle Winkel des kleinen
Unterstandes. Er schien aber mit dem Ergebnis nicht
zufrieden zu sein, denn er hatte tiefe Falten auf seiner
Stirn. „Ich bekomme einfach nicht das auf den Schirm, was ich
vor mir sehe.“
„Wie?“, fragte Tim, entschuldigte sich bei den Männern und
ging zu Axel. Dann standen alle hinter Axel und schauten ihm
beim Filmen zu.
„Das ist ja abgefahren! Jetzt ist alles normal.“ Er kratzte
sich an der Stirn. „Egal, wo ich die Kamera hingehalten habe,
hatte ich immer eine reich geschmückte Frau im Vordergrund.
Sie schien mit mir sprechen zu wollen, aber ich hörte nichts.
Jetzt ist alles vorbei.“
„Wie sah sie aus?“, fragte einer der Männer eher unbeteiligt.
„Sie hatte ein langes, durchsichtiges Kleid an, von dem der
oberste Knopf offen stand. Sie hatte braune Haare, die bis zu
ihrem Po reichten und auf dem Kopf trug sie eine Krone, die
spitz nach oben zulief.“
„Ach, das ist Okomfo, die Tochter der Göttin, die über
unseren Fischfang wacht. Sie kommt öfters mal vorbei und
Komo Eskapo / DIRK 60
unterhält sich mit uns. Sie ist auch schon den Fischern
erschienen und hat sie durch ihre aufreizende Aufmachung manches
Mal von ihren Vorhaben abgebracht. Die Fischer gingen an
Land und hatten keinen Fisch gefangen. Dafür hörten sie die
Okomfo über ihren Köpfen sie auslachen. Aber eigentlich ist
sie harmlos.“
„Ich wusste gar nicht, dass Göttinnen Töchter haben“, sagte
Judith.
„Es sind keine Töchter, wie du und ich sie kennen. Okomfo
ist halb Gott, halb Mensch und liebt es, den Menschen Streiche
zu spielen. Okomfo sieht durch das Auge des schwarzen Geiers
und sie spricht mit den Menschen, indem sie in ihren Kopf einzieht.
Das ist lustig, denn sie spricht ohne Sprache. Sie ist
sehr gebildet und kennt die Menschen gut. Wir freuen uns
immer, wenn sie kommt.“
„Also wollte sie euch heute besuchen.“
„Sie ist immer noch da. Aber ihr werdet sie vielleicht
nicht erkennen, weil ihr in die falsche Richtung seht.“
„Die falsche Richtung?“, fragte Judith.
„Falsch ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck.“ Er
wandte sich an den anderen Mann. „Er sagt, ihr müsst das Programm
wechseln.“
„Das Fernsehprogramm?“
„So ähnlich. Ich kann dir das aber auch nicht genau
erklären.“
Von der Wasserlinie, wo die stolzen Boote des Fischervolks
lagen, die überall mit Fahnen geschmückt waren, gingen sie am
Strand entlang zum Beach Ressort. Es war später Vormittag und
sie nahmen sich die Zeit für einen Imbiss.
„Vorerst, um das vorwegzuschicken, werden wir keinen Film
drehen, das braucht eine längere Vorbereitungszeit. Wir arbeiten
gerade an einer Software, die das Filmmaterial auswertet
und daraus selber einen Film erstellt. Der Drehbuchautor gibt
Eckpunkte ein und die Software fragt den Autor im Dialog, was
es werden soll, Doku, Liebesfilm, Drama etc.
Komo Eskapo / DIRK 61
Dazu werde ich einen Scripter vorbeischicken, der sich die
Lokalität ansieht. Axel wird die Hintergründe abfilmen und die
beiden werden einen Drehbuchentwurf machen.
In das Material baut die Software die Darsteller ein. Die
Schauspieler haben Filmchen von sich geschickt, in denen sie
alle möglichen Posen und Gesichtsausdrücke aufgenommen haben.
Die Software entscheidet selbstständig, welche von den Sequenzen
sie auswählt. Findet sie keine nach ihrer Meinung passende,
animiert sie diese selber aus dem vorhandenen Material.
Genauso läuft das mit der Sprache. Er muss keiner mehr
reden, wir brauchen keine tausenden Takes von einer Szene, das
macht alles die Software.“
Tim schaute um sich. Aber er sah mehr Fragezeichen in den
Gesichtern als Kopfnicken. „Cool was? Der kleine Vortrag
musste gerade mal sein, ist noch brandneu die Sache.
Aber weswegen wir hier sind, darüber hatten wir schon am
Telefon gesprochen“, sagte Tim zu Dirk gewandt, „ist das Kloster.
Ich möchte mich an dem Aufbau beteiligen, ich finde das
eine super Idee. Meine Frau und ich haben uns gedacht, den
laufenden Betrieb solange zu unterstützen, bis das Kloster
sich selber trägt.
Dieses Engagement ist nicht ganz uneigennützig. Meine Filmkarriere
neigt sich dem Ende zu, meine Kinder sind erwachsen
und meine Frau und ich machen uns Gedanken über unsere
Zukunft. Wir möchten auf alle Fälle weg aus dem Rummel und dem
Showbiz und erwägen, hierher zu ziehen, wenn das Gelände
fertig ist.“