Einen Tee bitte!
Reise zum Tee
„Tee? Sie meinen Schwarztee oder Grüntee?“ Der Verkäufer sieht mich erwartungsvoll an, als müsste ich eine Antwort haben. Wie soll ich ihm erklären, dass ich einen Geschmack auf der Zunge habe, aber keinen Namen?
Der Ich-Erzähler reist in 17 Episoden über vier Kontinente, trinkt schwarzen Darjeeling, grünen Longjing und einen japanischen Tee, der nach Fisch schmeckt. Er begegnet Teesorten, von denen er noch nie gehört hat, erlebt Teezeremonien, die in keinem Buch stehen. Er entdeckt Kräutertees, die ihn zweifeln lassen, dass Tee, Camellia sinensis, die einzige Lösung für den Morgengruß ist und trifft auf Menschen, die nicht den Tee trinken, sondern den Tee sie trinken lassen.
Der Weg
Mir begegnete buddhistische Meditation und ich stand damit vor einer Vielfalt von Angeboten, eine Richtung einzuschlagen. Ich entschloss mich für den alten, indischen Weg, den man Theravada nennt.
In das Zentrum, in das ich zum meditieren ging, wohnte zu der Zeit ein deutscher Mönch, der aus Sri Lanka zurückgekehrt war. Er war ein intellektueller Mensch, dessen Vorträge sich eng an den Lehrreden des Dharma orientierten, der buddhistischen Lehre, wie der Buddha sie dargelegt hatte.
Der Buddha nennt es den Weg, der aus dem Leid der Welt herausführt. (Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass mein Leben voller Leid war, und glaubte eher an einen Gott, der kam und mich von meiner Last befreite.)
Ich nutzte jede Gelegenheit, um die Vorträge und Meditationen des Mönchs zu besuchen. Seine Darlegungen sprachen mich an und offenbarten mir eine Möglichkeit, meine Altlasten anzugehen und zu bearbeiten.
Ebenfalls bei den Meditationen war öfters eine Frau, die mich irgendwann fragte, ob ich eine andere Art und Weise der Meditation kennenlernen wollte, als in dem Haus praktiziert wurde. Ich hatte bislang wenig mit der Frau gesprochen und hatte keine Ahnung, was sie meinte, ich wusste nicht, dass es unterschiedliche Arten von Meditationen gab. Sie vermittelte mir ausreichend Vertrauen, dass ich meiner Neugier und Abenteuerlust nachgab, um auf ihr Angebot einzugehen.
Ich tauchte an einem Donnerstagabend zu der verabredeten Zeit an der Adresse auf, die sie mir gegeben hatte. Zu meinem Erstaunen war es eine einfache Wohnung in einem Mehrfamilienhaus.
Als ich in der Wohnung ankam, hatten sich die anderen entschuldigt, die ich aus der Meditationsgruppe kannte und die ebenfalls an der Sitzung teilnehmen wollten.
Ich war allein mit der Frau, die mir nicht besonders sympathisch war, das Licht in der Wohnung war schummrig und Menschen, die mich zu etwas verleiten wollen, erzeugen in mir den Instinkt für Flucht. Ich spürte ihre Nervosität, für mich ein untrügliches Indiz, dass sie etwas vorhatte, dass sie mit mir etwas vorhatte, über das sie nicht sprechen wollte. Ich überlegte fieberhaft, was das sein konnte, wovor ich Angst hatte und ob es zivilisatorisch angesagt war, mich umzudrehen, meine Jacke zu schnappen, die Tür aufzureißen und wieder zu gehen.
Es kam anders. Sie schien meine Aversion zu spüren, sagte nichts, sondern ging voraus in ein kleines, eigens für Meditationen reserviertes Zimmer. Darin hatte sie einen Altar mit einer Buddhastatue aufgestellt, an der Wand hing ein Thangka, auf dem die Wesen abgebildet waren, die symbolisch für die Tierwelt, die Menschen und die Götterwelt standen. Die Wesen sahen martialisch aus, deren Aussehen erst zur Mitte hin, der Welt der Erleuchteten, ein friedfertiges Erscheinungsbild annahmen.
Auf dem Altar brannte eine Kerze und in einer mit Sand gefüllten Schale glimmten Räucherstäbchen, die den Raum einhüllten, als hätte jemand ein Nordlicht geschickt, das nur dann leuchtete, wenn man nicht hinsah.
Auf dem Boden lagen vier Matten mit Meditationskissen, ich nahm das, von dem ich annahm, dass es dem, worauf sie saß, möglichst weit entfernt war.
Langsam legte sich mein Stress, wir machten eine Andacht und rezitierten die Zufluchtnahme(*FN* Durch die Zufluchtnahme zu den 3 Juwelen Buddha, Dhamma, Sangha erlangen die Meditierenden Vertrauen in ihren Weg.*FN*), dann ließ ich mich in Meditation fallen, die am Anfang von der bedrückenden Atmosphäre in dem kleinen Zimmer beherrscht war.
Irgendwann läutete ein Gong zum Ende der Meditation und ich kam zurück in die Welt. ‚Zurück in die Welt‘ ist nicht wie morgendliches Aufwachen, bei dem man die Fetzen der Träume in der Hand hält. Es hat eher was von der Gangway des Urlaubfliegers, die langsam in die Empfangshalle zurückführt und damit in die Wirklichkeit der Termine und Verpflichtungen.
Ich war nicht wie sonst froh darüber, dass das Schmerzen in den Knien ein Ende hatte. Der Gong läutete und ich wusste zum ersten Mal, was Freiheit bedeutete. Ich saß da mit gekreuzten Beinen und alles, was mich beschäftigte, was zu den unendlichen Selbstgesprächen führte, war weg, wie weggeblasen. Mein Kopf oder mein Geist fühlte sich an wie der eines Babys, das auf einer Sommerwiese voller Blumen sitzt und eine Hummel betrachtet, die kommt und wieder geht.
Langsam kehrte der Raum zurück. Draußen war es dunkel geworden, die Kerze fast heruntergebrannt. Die Frau stand auf und stellte Tassen vor die Meditationskissen. Sie goss heißes Wasser auf die Teeblätter, die sie in das Sieb legte. Wir schwiegen und sahen auf die Buddhastatue, die im flackernden Licht der Kerze auftauchte und wieder verschwand.
Der Tee war leicht im Vergleich zu den schwarzen Tees, die ich bis zu dem Zeitpunkt getrunken hatte, und schmeckte säuerlich. Er roch anders. Ich konnte nicht sagen, wie, weil Adjektive wie ‚blumig‘ oder ‚weich‘ so hilflos sind. Schmecken ist mehr als Worte jemals sagen können. Der Tee öffnet, er öffnet die Tür in die unendliche Bewusstheit, die alle Möglichkeit enthält und doch nur eine ist, das, was gerade da ist. Viele Grüne Tees sind nicht fermentiert, man schmeckt mehr das Blatt und die ätherischen Öle, die es enthält. Doch das war nicht alles.
Ich hatte die Tasse auf die Untertasse gestellt, meinen Schneidersitz wieder eingenommen und war bei dem Tee, der sich langsam aus den Geschmacksnerven zurückzog. In dem Zimmer war es still, als die Frau auf einmal ihre Stimme erhob:
„Nicht du trinkst den Tee, sondern der Tee trinkt dich.“
Wieder Stille. ‚Wie sollte mich der Tee trinken?‘, dachte ich. Ist der Tee ein Monster, das mich aussaugt? Das Gefühl konnte ich nicht bestätigen. Was meinte sie damit? Ich fragte nicht, trotzdem antwortete sie:
„Verlasse den, der trinkt und werde zu Tee. Dann hast du die Lehre verstanden.“
Mir fiel das ‚Mu‘ der Zenmeisterin ein, das mich so lange beschäftigt hatte. Ging das in die gleiche Richtung, was die Frau gesagt hatte, vom Trinkenden zum Tee werden? Ich hatte eine Ahnung, aber nur eine Ahnung.
Mir war nicht klar, dass der Geruch und der Geschmack dieses Tees sich so tief in meine Seele einkerbte, vergleichbar mit der ersten Erdbeere, nach der langen, winterlichen Entbehrung für frisches Obst. Erst in Shenzhen habe ich den Namen des Tees erfahren, den man Longjing nennt. Longjing heißt auf Deutsch Drachenbrunnen, ein grüner Tee aus der chinesischen Provinz Zhejang, die im Norden an Shanghai grenzt.
Ich bin mehrere Male zu der Frau zur Meditation gegangen und später mit ihr auf ein Retreat gefahren. Danach habe ich sie nie wiedergesehen. Einmal in der U-Bahn meinte ich, sie zwei Bänke weiter erkannt zu haben. Als ich aufstehen wollte, um sie zu begrüßen, veränderte sich das Gesicht der Frau und wurde mir vollkommen fremd.